"La Rivista di Engramma (open access)" ISSN 1826-901X

198 | gennaio 2023

97888948401

Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel (1923)

Fritz Saxl

Fritz Saxl, Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel, “Vorträge der Bibliothek Warburg 1921-1922”, hrsg. von F. Saxl, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1923, 1-10.

Das Problem der Bibliothek Warburg ist die Frage nach Ausbreitung und Wesen des Einflusses der Antike auf die nachantiken Kulturen. Ich möchte vom Persönlichen ausgehen und zu zeigen versuchen, wie Warburg zur Stellung seines Problems kam, welche Wege er zu dessen Bearbeitung und Lösung selbst einschlägt und anderen gezeigt hat.

Warburgs Vorbild war Jakob Burckhardt. Von Burckhardt, dem aller bloße Attributionismus der Kunstgeschichte zuwider war, dessen reifstes Werk — die Weltgeschichtlichen Betrachtungen — nicht kunstgeschichtliche sind, hat Warburg vor allem gelernt, die Kunstgeschichte in weitem Rahmen zu betrachten. Burckhardts Erbe tritt Warburg an, wenn er die Bibliothek eine kulturgeschichtliche genannt hat, und wenn er sie in so vielem als eine Renaissance bibliothek gestaltet; das Verständnis für die Renaissance verdankt Warburg ihm in erster Linie. Durch Burckhardt lernt er in ihr jene Periode erblicken, in der der menschliche Geist zur Freiheit gelangt. Burckhardt folgt er geschichtsphilosophisch, wenn er danach strebt, den Reichtum der historischen Erscheinungen ohne aphoristische Formel zu erfassen, wenn er die Einzelpersönlichkeit sucht, nicht das Gesetz der Weltgeschichte.

Und doch wurde Warburg kein Nachfolger Burckhardts, sondern ein Fortsetzer. Burckhardts Einfluß wird gekreuzt und abgelenkt durch den Einfluß anderer, vor allem Nietzsches. So sehr Nietzsche von Burckhardt abhängig ist, so sehr steht er doch auch im Gegensatz zu ihm. Burckhardt will wertfreie, geschichtliche Bilder malen, Nietzsche ist das “wertende Tier”. Sieht Burckhardt im Antiken das Apollinische überwiegen, so Nietzsche das Dionysische.

Der Begriff des Dionysischen ist es, der das Denken des jungen Warburg erfüllt und ihm seine Richtung gibt. Auch er sieht in der Zeit Raffaels ein Menschheitsideal von höchster Reinheit und Klarheit. Aber er sieht in der Frührenaissance die Zeit des Kampfes, die Zeit, in der das Dionysische, nach tausendjährigem Schlaf erweckt, das Leben der Menschen in Wirbel versetzt, die sich erst in der Zeit der Hochrenaissance klären. Dionysische Mimik kämpft in dieser Zeit stärkster Erregung gegen apollinische Architektonik.

Diesen Kampf zwischen Freiheit und Gebundenheit in der Kultur der Frührenaissance zu schildern, ist das Lebensziel Warburgs. Daß er ihn auf religionsgeschichtlichem Gebiet geschildert hat — als einen Kampf zwischen Hellenismus und Hellenentum, zwischen Orient und Okzident, zwischen heidnischer Gebundenheit und der Ungebundenheit des geistig befreiten Individuums — das verdankt er dem dritten Großen, der ihn beeinflußt hat: Hermann Usener.

Wie Nietzsche im Gegensatz zu Burckhardt, so steht Usener im Gegensatz zu Nietzsche. Die Volksreligion der Antike will Usener schildern im Reichtum ihrer Wirklichkeit, er will keine philosophischen Betrachtungen über die Religion der Alten anstellen. Usener ist der Feind begrifflicher “Armut”; ihm und seiner Schule ist es zu verdanken, wenn wir heute tiefer hineinsehen — oder doch hineinzusehen glauben — in das Bewegte und Komplexe des hellenistischen religiösen Erlebnisses. Ihm verdankt Warburg es vor allem, daß er sein Denken auf das Phänomen des Wiederauflebens heidnischer Religiosität in der Frührenaissance einstellen konnte, da er ihm vor allem die Erkenntnis des antiken Heidentums verdankt.

Es war ein scheinbar äußerer Anstoß, durch den Warburg den Weg fand, alle diese Elemente zu vereinigen, die Begeisterung für Florenz, für das Dionysische und das lebendige Gefühl für den Wert und die Stärke der antiken Religiosität und Dämonenfurcht: eine Reise nach Amerika. Durch das Studium der Puebloindianer hat Warburg erkennen gelernt, was Heidentum ist, und nun kommt er zu seiner Problemstellung: “Was bedeutet jener in seinem Wesen nie erfaßte Einfluß der Antike auf die späteren Jahrhunderte, was bedeutet er vor allem für das Florenz des 15. Jahrhunderts?” Das eben ist das Neue an Warburgs Denken, daß er nicht nur fragt: bis wohin — geographisch und zeitlich — reicht dieser Einfluß und wie stark ist er?, sondern daß er als Hauptfrage die Frage nach der Bedeutung stellt: Welcher Art ist der Einfluß der Antike auf die kommenden Geschlechter? und daß er versucht, sein Problem nicht in der isolierten Betrachtung eines Geistesgebietes zu lösen, sondern daß er sich eine Methodik schafft, um die Geschichte der Religion und die Geschichte der Kunst zusammenzuschauen.

Und nun darf ich mir erlauben, an einem Einzelproblem aus Warburgs Problemkreis darzulegen, wie er seine Methodik der Zusammenschau jeper Geistesgebiete anzuwenden versucht. In einer Handschrift vom Jahre 1023, der bekannten Enzyklopädie des Rabanus Maurus, einem mittelalterlichen Konversationslexikon, finden wir Bilder der antiken Götter. Auf einem Blatt sehen wir Venus, Cupido und Pan vereinigt [1] [Abb. 1]: so sonderbar diese Darstellungen aussehen, ist doch für den Historiker auf den ersten Blick deutlich, daß ein solches Bild der Venus unmittelbar auf ein antikes Vorbild zurückgehen muß. Ich darf es der Abbildung einer antiken Statue gegenüberstellen; der Vergleich zeigt, daß hinter dem mittelalterlichen Bild eine echt antike Plastik steckt. Es ist nicht Ungeschick allein, daß bei dem mittelalterlichen Illustrator diese Venus so “sonderbar” geworden ist. Denn für ihn hat die Göttin gar keine religiöse Bedeutung mehr, weder im positiven noch im negativen Sinne — im 11. Jahrhundert wird kaum jemand versucht gewesen sein, zu Aphrodite zu beten. Auch formal ist für ihn das klassische Vorbild ohne Interesse; was er allein darstellen will, ist ein Schema zur Illustration des Konversationslexikons.

Als zweites mittelalterliches Denkmal sei eine Eva vom Dom von Traù vorgeführt, deren Meister Radovan um 1240 gelebt hat. Wie der Vergleich mit der nebenstehenden Abbildung zeigt, hat der Meister dafür eine antike Venus zum Vorbild genommen [2] [Abb. 2.]. Hier liegt ein ganz anderer Fall vor, als bei dem Venusbild in jenem Kodex des Rabanus. Dort war die Venus eine Abbildung zu einer wissenschaftlichen Abhandlung über die Mythologie der Alten. Das traditionelle, nennen wir es wissenschaftliche Interesse hatte jedes andere überwogen. Hier dagegen tritt zwar das inhaltliche Moment — daß es eine Aphrodite war, die das Vorbild für den mittelalterlichen Künstler abgab — auch ganz zurück. Aber die Antike ist formal vorbildlich für die Darstellung eines rein christlichen Inhalts.

1a | Antike Venus nach Salomon Reinach, Répertoire de la statuaire grècque et romaine, I [Paris 1897], 342.
1b | Venus, aus der Rabanus-Handschrift in Montecassino [Rabano Mauro, De Universo].
2a | Antike Venus aus Lucera [Venus, I secolo d.C., Lucera, Museo civico “G. Fiorelli”].
2b | Eva, von Dom Traù [Radovan, Eva, c. 1240, Trogir, Katedrala Sv. Lovre].
4 | Venus von Campanile in Florenz [Studio von Andrea Pisano (?), Venus, c. 1340, Firenze, Santa Maria del Fiore, Campanile]. 

Verfolgt man nun diese Linie des antiken Fortlebens weiter ins 14 Jahrhundert, dann erkennt man, daß allmählich auch der profane Inhalt der antiken Welt dem Mittelalter bedeutsam wird, ja bis ins Kirchliche eindringt, daß aber seine bildliche Darstellung gerade in dieser Epoche antiken Vorbildern formal ferner steht als etwa in der Zeit des Magister Radovan oder jener Rabanushandschrift. In den Schilderungen der Minnehöfe begegnet uns wiederholt der Name der Göttin Venus. Weltlich-heidnische Minne tritt der geistlichen gegenüber. Eine Miniatur aus dem Rosenroman stellt Venus mit dem Liebenden dar. [Abb. 3.] Ich darf den Text, den die Miniatur illustriert, hierher setzen, da er deren Sinn klar erfassen läßt.

3 | Venus und der Liebende, Miniatur aus dem Rosen-Roman [Venere e l’amante, miniatura dal Roman de la Rose di Guillame de Lorris e Jean de Meung, fine XIV secolo, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2592, foglio 26 r., entnommen aus A. Kuhn, Die Illustration des Rosenromans, “Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses” XXXI, Wien 1912, tavola VII ].
6 | Raffael, Drei Grazien [1503-1504], Chantilly, Musée Condé. 

Mais Venus, qui toz jorz guerroie
Chasteé, me vint au secors:
Ce est la mere au deu d’Amors,
Qui a secoru maint amant.
Ele tint un brandon flamant
En sa main destre, don la flame
A eschaufee mainte dame;
Si fu si cointe e si tifee
Qu’el resembla deesse ou fee;
Dou grant ator que eie avoit
Bien puet conoistre qui la voit
Qu’el n’est pas de religion.
Ne ferai or pas mencion
De sa robe e de son oré
Ne de son treçoer doré,
Ne de fermail, ne de corroie,
Por ce que trop i demorroie;
Mais bien sachiez certainement
Qu’ele fu cointe durement … [3]

Diese ‘Dame Venus’ ist ganz weltlich und hat daher schon etwas von den Zügen der Knidierin, wenn sie auch Repräsentantin der ‘Minne’ ist, nicht des ‘Eros’. Die Kräfte der alten Personifikation erwachen, aber in der Darstellung ist — im Gegensatz zu jener am Dom zu Traù — nichts Antik-Formales; denn Dichter und Miniator schildern Venus als reizende Dame des 14. Jahrhunderts. Dennoch ist die Kraft dieses neuen Heidentums so groß, daß nun die heidnischen Symbole sogar bis ins Kirchliche Vordringen können.

Dafür möchte ich als Beispiel die Venusdarstellung vom Campanile, in Florenz vorführen. [Abb. 4.] Venus ist hier die Repräsentantin ihrer Planetensphäre, denn die Reliefs, die den Campanile von Florenz schmücken, sind ein Abriß mittelalterlicher Weltanschauung in Bildern. Die sieben Sphären der Planeten sind dargestellt, ihnen zugeordnet die sieben Sakramente, die sieben Tugenden und die sieben Laster, die sieben freien und die sieben mechanischen Künste, die Beschäftigungen des täglichen Lebens. Es ist hier also ein Weltbild gestaltet, das von den Höhen der Planeten bis zum Alltäglichen reicht. Über allem, über Mikrokosmos und Makrokosmos, ist Gottvater zu denken [4]. Wie ist nun in diesem monumentalen kirchlichen Weltbild das Bild eines jener Planeten, der nach der Lehre der Kirchenväter von Gottes Engeln gelenkt wird? Eine reizende Dame aus dem 14. Jahrhundert sitzt vor uns, mit einer netten Handbewegung zieht sie ihr Tuch vor und hält auf der Hand die zwei kleinen, in Liebe umschlungenen Menschenkinder. Diese Venus an dem kirchlichen Bauwerk ist eine Schwester jener Frau Minne aus dem Roman de la Rose, den ich mir erlaubt habe, vorher vorzuführen. In die christliche Gedankenwelt tritt die antik-profane ein, im Bildwerk — ebenso wie im Roman — noch ganz unantikisch. Nach den mittelalterlichen Monumenten, die hier nur ganz kurz charakterisiert werden können, sei nun etwas näher auf ein Denkmal der Renaissance eingegangen, jener Periode, der Warburg seine beste Kraft gewidmet hat. Es sind die Fresken des Palazzo Schifanoja, deren aufschlußreiche Analyse wir Warburg verdanken [5].

5 | [Francesco del Cossa], April-Fresko, aus dem Pal. Schifanoja in Ferrara [1468-1470, Ferrara, Palazzo Schifanoia].

An ihnen konnte er das Zentralproblem seiner Forschungen in seiner ganzen Vielseitigkeit darstellen: was bedeutet die Antike für den Frührenaissancemenschen? Die Darstellung, deren Verständnis uns Warburg als erster erschlossen hat, gliedert sich in drei Streifen [Abb. 5]: im ersten Streifen ist das Reich der Venus; da fährt die Göttin einher, von Schwänen gezogen als die Göttin des Monats April — im untersten Streifen sind Darstellungen des höfischen Lebens von Ferrara, die auf diesen Monat Bezug haben. Sonderbare Gestalten bevölkern den mittleren Streifen: dem Sinn nach deutlich ist der Stier, unter dem die Sonne hervorlugt — bekanntlich tritt die Sonne im Monat April in das Tierkreiszeichen des Stieres — sonst aber sind die Gestalten uns fremd: eine Frau mit einem Kind, ein Mann mit einem Pferde über dem Stier ein Mann, der einen Schlüssel hält; sie gehören in das uns so dunkle Reich der Astrologie. Es sind die Beherrscher von je zehn lagen des Monats, deren Einfluß der Gläubige fürchtet, nach deren Willen er sein Leben einzurichten hat. Es sind, wenigstens teilweise, antike Gestalten, die wir in diesen Dämonen zu erkennen haben, nur haben sie eine lange Reise hinter sich, die sie von Hellas bis nach Indien geführt hat. Als Zehn-Tage-Dämonen vermummt, kehren sie nach den lateinischen Gefilden wieder; Perser, Araber und Juden vermitteln dem Abendlande diese längst vergessene hellenistische Götzenwelt. In einer ganz anderen Umgebung also als am Campanile in Florenz und im Rabanus tritt in diesem obersten Streifen Frau Venus entgegen; sie ist nicht bloße Repräsentantin mondäner Liebe, sie hat eine neue Bedeutsamkeit für den Menschen der Frührenaissance erhalten: sie beherrscht einen Abschnitt seines Lebens auf Grund ihrer mathematischen und mythologischen Qualitäten als Planet Venus; weil ihr dieser Monat April pseudomathematisch zugehört, darum hat der Astrologie-gläubige — und das war der Frührenaissancemensch im allgemeinen — seine Liebesgeschäfte im April zu erledigen; unter ihrem Schutz lassen sich die Herren und Damen der ferraresischen Gesellschaft beim Liebesspiel darstellen; denn wir können gar nicht zweifeln, daß einzelne dieser Figuren porträthaften Charakter haben.

Was die Sterngöttin Venus dem astrologisch Gläubigen bedeutet, darüber belehrt uns am besten das astrologische Handbuch des Mittelalters und der Renaissance, die “Große Einleitung” des Abū Maʿshar, in der auch jene “Indischen Dekane” aufgezählt sind, die in Ferrara dargestellt wurden.

Venus ist kalten und feuchten Temperaments; ihr gehören das Geschlecht der Weiber und die kleineren Schwestern, sowie Kleider und aller Putz und Schmuckkettchen mit goldenen oder silbernen Zieraten, häufige Bäder und Waschungen, gefällige Feinheiten des Wuchses und witzige Einfälle, Liebe zur Musik, Freuden, Späße [6], aller Instrumente Weise, die Instrumente selbst und das Spielen auf ihnen, ebenso Verlobte und Verlobung, wie das Brautgemach und das dreifache Recht der Ehe; auch liebliche und süße Wohlgerüche, Glücks- und Würfelspiele [7], Muße ohne Studien, Liebe, Zügellosigkeit, süße Klagen, Verweichlichung, Unwille, Betrug, Lüge und Meineid in häufiger Wiederholung. Ferner sind in ihrem Bereich: Wein, Honigtrank, berauschendes Getränk, der Rausch selbst, Ausschweifung; Hurerei und alles der Art, natürlich und widernatürlich bei beiden Geschlechtern, legitim und illegitim, alle, die es ausüben mitsamt der außerehelichen Nachkommenschaft. Ebenso Kindesliebe, gegenseitige Menschenliebe, Barmherzigkeit, leichte Grausamkeit und (deren?) williges Empfangen, Gesundheit des Körpers, Schwäche des Geistes, Fülle der Fleischlichkeit mit reichlichem Fett, jede Vergnügung, Reichtum und Ergötzlichkeiten, sowie das eifrige Streben danach, weiter feine und bewundernswerte Kunstwerke, z. B. treffliche Malereien und Erfindungen [8] mit ihren Bildern, Märkte und Buden und der Gewürzhandel; zum Schluß der Trieb zur Wissenschaft, Tempel, Gesetzlichkeit, das unparteiische Recht.

In Ferrara tritt uns also die Antike in keinerlei christlicher Verkleidung mehr entgegen. Zwar kann man erkennen, daß dem Meister des Venusbildes die Vorstellung des mittelalterlichen Minnehofes noch lebendig ist, ja, Warburg konnte mit Recht von einer gewissen Lohen- grinstimmung sprechen, die in der Darstellung lebt, aber — und das ist das wesentliche — der kniende Ritter ist nicht Herr Lohengrin, die Dame nicht Frau Elsa: der Herr und die Dame sind Mars und Venus, die Planeten. Diese geheimnisvollen Fresken sind Bilder von Göttern, die das Menschenschicksal entscheiden, sie sind Dokumente der Weltanschauung des neuen Menschen, die uns Aufschluß geben können, wie Denker der Frührenaissance sich mit den Problemen von Makrokosmos und Mikrokosmos auseinandergesetzt haben. Sie sind Dokumente des Glaubens an das Dekret der Sterne, die das Schicksal eines jeden bestimmen. Für den Frührenaissancemenschen ist hier die nachklassische Sterngottheit Venus wahrhaft lebendig geworden. Nicht die klassische, hoheitsvolle Knidierin, sondern ein hellenistischer Sterngötze wurde wieder wirkende Kraft. Istar, die babylonische Göttin der Venus, zu der der Zauberer betet, deren Gewalt darin begründet ist, daß sie mythologisch und mathematisch zugleich wirksam ist. Das Erregende spätantiken Heidentums formt das Denken dieser Menschen. Die religionsgeschichtliche Linie, deren Anfänge in der späten Antike der junge Warburg von Usener erkennen lernte, konnte er bis ins 15. Jahrhundert verfolgen.

Das dionysisch Steigernde ist jedoch nur eine Komponente, wenn auch, wie Warburg angenommen hat, die Hauptkomponente des antiken Einflusses auf die Frührenaissance. Auch von jener Plastik von Traù des Magisters Radovan, dem die Antike das plastisch klärende Vorbild war, führt ein Weg zu den Fresken des Schifanoja. Im Hintergründe des Bildes hat der Künstler die Dienerinnen der Venus dargestellt: die Grazien. Es braucht keines Vergleichsbildes, um zu zeigen, daß diese Gruppe auf ein plastisches Vorbild des Altertums zurückgeht. Mit der dämonisch gesteigerten antiken Götzenwelt — voll starker religiöser Augenblicksbedeutung für den Frührenaissancemenschen — dringt zugleich die apollinische Antike in den spätmittelalterlichen Kulturkreis ein.

Der Augenblick, in dem die apollinische Antike die dionysische besiegt, die hellenische Antike die hellenistische, ist nicht mehr fern. Es war um die Wende des 15. Jahrhunderts, als der junge Raffael das Bild der drei Grazien formte. [Abb. 6.] Hier stehen sie in keinerlei astrologischem Zusammenhang und keinem kirchlichen. Hier sind sie die Symbole der Freiheit des Menschen zur Bildung des Schönen, nicht mehr Symbole der stärksten Gebundenheit. Hier sind sie die reinen Künderinnen apollinischer Schönheit. Die Geschichte dieser Befreiung hat Warburg nicht geschrieben. Sie ist ihm das Heiligtum einerseits, sie hat für ihn die Armut des Ideals auf der anderen Seite. Sein Ziel ist, aus seiner eigenen inneren Bewegtheit heraus, den Akt der Befreiung des Hellenischen aus der Umklammerung des Hellenismus, die Befreiung des Abendlandes vom Geist des Orients, die Schönheit der Befreiung des Individuums aus den Ketten des Kosmos zu schildern.

Warum diese Bewegung kommen konnte, das auszuführen ist nicht mehr Warburgs Absicht. Wir verdanken den neuesten Forschungen, vor allem den Arbeiten von Burdach, Einblicke in dieses Problem. Burdach war es, der das national-italienische Element und seine Bedeutung für das Werden der Renaissance nachgewiesen hat [9] Eines der deutlichsten Zeichen für das neu erwachte Interesse an der Geschichte der eigenen nationalen Vergangenheit ist das Aufspüren der alten, im Mittelalter zum Teil vergessenen Schriftsteller. Auch das Hineinwirken dieser geistigen Bewegung in den Freskenzyklus des Palazzo Schifanoja hat Warburg aufgewiesen.

Man würde vergeblich in den Schriften der meisten astrologischen Autoren des Altertums danach suchen, daß Venus die Göttin des April gewesen sei, Apollo die Gottheit des Mai, Merkur der Gott des Juni, wie das in den Darstellungen des Palazzo Schifanoja der Fall ist. Warburg hat gefunden, daß der einzige Autor des Altertums, der diese Anordnung der Renaissance übermitteln konnte, der römische Dichter Manilius ist. Manilius, einer jener Autoren, den die Frührenaissance wieder entdeckt hat, nachdem er durch das ganze Mittelalter hindurch völlig in Vergessenheit geraten war.

Ich glaube, wir sehen an diesem Punkte klar das Wesen des Einflusses der Antike. Die spätantike Religiosität beherrscht mit ihrer mathematisch-mythologischen Astrologie das Denken dieser Frührenaissancedenker. Burdach und Reitzenstein [10] verdanken wir die Geschichte des Begriffs Renaissance; ihnen verdanken wir die Einsicht, daß das Wort renasci seit der Antike einen eminent religiösen Sinn hat, daß es die “Wiedergeburt im Geiste” sowohl für den spätantiken Menschen wie für die christliche Liturgie bedeutete. Rienzi und Petrarca haben es im religiösen Sinne gebraucht. Die den Menschen zu innerst aufwühlende und zugleich durch ihren Fatalismus zu tiefst beruhigende Wiedergeburt der spätantiken Religiosität war eines der Ziele jener Bewegung, die wir Frührenaissance nennen, die Wiedererweckung der sogenannten “klassischen Schönheit” das zweite Ziel, die Erweckung des italienischen Nationalgefühls deren Grundlage.

Ich möchte damit meine Beispiele beschließen und wünschte nur, daß an ihnen deutlich geworden sei, wie Warburg es versucht, durch das Ineinanderarbeiten verschiedener Disziplinen, vor allem der Kunst - geschichte und Religionsgeschichte, an die Lösung seines speziellen Problems “was die Antike für den Frührenaissancemenschen bedeutet” heranzukommen. Warburg hat bisher nur einen Teil des umfassenden Problems vom Nachleben der Antike in Angriff nehmen können. Was das Wesentliche ihres Einflusses auf Dante, Shakespeare und Goethe war, wie ihr Einfluß auf die Gandhära-Plastik und auf die Kultur der Sasaniden — das ist in seinem Sinne kaum jemals noch gefragt oder gar beantwortet worden. Das Material zur Lösung dieser Fragen bereitzustellen, hat Warburg als seine Aufgabe erkannt, sobald er eingesehen hatte, daß er das ganze Problem allein zu lösen nicht imstande sei. In seiner Bibliothek hat er dieses Material nicht bloß vereinigt, sondern auch klar geordnet aufgestellt. Das eben macht den spezifischen Charakter der Bibliothek aus, daß sie eine Problembibliothek, und daß ihre Aufstellung derart ist, daß sie an das Problem heranzwingt. An der Spitze der Bibliothek steht die Abteilung für Geschichtsphilosophie. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß darin die Burckhardtliteratur steht. Dann hat die Bibliothek selbstverständlich aus der Geschichte der Philosophie, der Religionen und der Kunst, sowie aus der allgemeinen Historie, Literaturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte jene Teile, die sich auf das Problem des Nachlebens der Antike beziehen. Den Aufbau eines einzelnen Schrankes soll eine Skizze verdeutlichen [Abb. 7].

7 | [Schema der organisation der Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg].

Der Schrank enthält im wesentlichen Religionsgeschichte, Geschichte der Naturwissenschaften und der Philosophie. Die Religionsgeschichte ist so gegliedert, daß voran Werke über die religiöse Problematik stehen, darauf folgen die allgemeinen Werke über Religionsgeschichte aller Völker und erst dann die Geschichte der antiken Religionen mit besonderer Berücksichtigung der spätantiken, da diese es sind, die im wesentlichen nachleben. Die Werke über Philosophie sind im selben Sinne geordnet, also zuerst das Problem: Geschichte des Idealismus, Geschichte des Materialismus usw. Hierauf allgemeine Geschichte der Philosophie und endlich die Geschichte der antiken Philosophie. Zwischen Religionsgeschichte und Geschichte der Philosophie ist die Geschichte der Naturwissenschaften aufgestellt, als Bindeglied zwischen der Geschichte der Philosophie und der Religion. Diejenigen, die dem Abendlande die Errungenschaften antiker Medizin und Philosophie überbracht haben, waren die Araber, und darum schließt sich an die Geschichte der Naturwissenschaften in Warburgs Bibliothek unmittelbar die Geschichte der arabischen Kultur an, ferner die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie als einer Synthese aus Orient und Okzident. Ich greife nur dieses eine Beispiel heraus und kann Sie nur bitten, an die Schränke heranzugehen; Warburgs Aufstellung ist so deutlich, daß ein Wegweiser nicht nötig ist.

Ein Problem ist in seiner Größe erkannt, Werkzeuge zu seiner Bearbeitung gegeben; werden sie richtig angewendet, so dürfen wir hoffen, der Lösung eines wissenschaftlichen Problems, das uns ein Suchender gewiesen hat, näher zu kommen.

Noten

1. Miniature sacre e profane dell’ anno 1023 illustranti l’enciclopedia medioevale di Rabano Mauro (a cura di Ambrogio Maria Amelli), Montecassino 1896, Tav. CXII.
2. Vgl. Oswald v. Kutschera-Woborsky, Das Giovanninorelief des Spalatiner Vorgebirges (Jahrbuch des kunsthistorischen Institutes [Deutschöst. Staatsdenkmalamt] Bd. XII. Wien 1918), 28.
3. Le Roman de la Rose par Guillaume de Lorris et Jean de Meun publ. par Ernest Langlois (Soc. des anciens textes français) Paris 1920 t. II. v. 3420-3438. Unsere Abb. der Miniatur aus Cod. Vindob. 2592 fol. 26 nach Alfred Kuhn, Die Illustration des Rosenromans (“Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses”, XXXI, Wien 1912, Taf. VII).
4. Vgl. Jul. v. Schlosser, Giusto’s Fresken in Padua und die Vorläufer der Stanza della Segnatura (“Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses”, XVII, Wien 1896).
5. Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara. Erscheint demnächst in: Atti del X. Congresso internazionale per la storia dell’Arte.
6. Der lateinische Text der hier zugrunde gelegten Ausgabe des Introductorium in astronomiam Albumasaris abalachi octo continens libros partiales, 108. Venedig 1506, hat loci (lies ioci).
7. Text: ludi incesseris atque aleis (lies: ludi in tesseris atque aleis).
8. Text: picture atque future (lies: picture atque facture?).
9. Vgl. Konrad Burdachs Zusammenfassung seiner umfassenden Einzelstudien in: Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst Berlin 1918.
10. Burdach a. a. O. und Richard Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, ihre Grundgedanken und Wirkungen. 2. Aufl. (Leipzig und Berlin 1920), 26 f. und 117.

English abstract

Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel is a conference held by Fritz Saxl at the Warburg Institute of Cultural Sciences during the academic year 1921-1922 and published in 1923 in “Vorträge der Bibliothek Warburg 1921-1922", edited by Saxl himself (Bd. 1, Leipzig/Berlin 1923, 1-10). In presenting the Library, Saxl exemplifies the particular approach to the history of the survival of Antiquity, on which the Library and the Institute of Cultural Sciences is based, through the figures of Venus and Eve and their representation in different ages.

keywords | Fritz Saxl; Aby Warburg; Warburg Library; Venus and Eve; Court Love.

Per citare questo articolo / To cite this article: F. Saxl, Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel (1923), “La Rivista di Engramma” n. 198, gennaio 2023, pp. 35-48 | PDF of the article 

doi: https://doi.org/10.25432/1826-901X/2023.198.0009