Das Nachleben der Antike
Zur Einfühurung in die Bibliothek Warburg (1921)
Fritz Saxl
Fritz Saxl, Das Nachleben der Antike. Zur Einführung in die Bibliothek Warburg, “Hamburger Universitäte Zeitunge” W. Sem, 1920/21, n. 4 II Jahrgang, Heft 11, 244-247.
Seit den Tagen von Winckelmann ist das Problem, welches der Einfluß der griechischen und römischen Antike auf die ihr folgenden Zeiten gewesen sei, allen historisch Denkenden lebendig und bedeutungsvoll. Die Anschauungen der letzten Generationen hat entscheidend Jacob Burckhardt beeinflußt. Denn in der ‘Kultur der Renaissance’, die vor mehr als 50 Jahren zum ersten Male erschien, stellte er uns das Ideal eines Volkes vor Augen, dem es gelungen sei, in allem und jedem die Antike neu zu beleben. Auch seit Burckhardt hat das historische Denken nicht aufgehört, das Problem zu erweitern und zu vertiefen, so daß unsere Stellung dazu eine wesentlich andere ist als die des 19. Jahrhunderts. Uns erscheint das italienische Rinascimento und der nordische Humanismus nur als eine Phase der Auseinandersetzung der nachantiken Kulturen mit dem klassischen Altertum. Denn ebenso wie das Schaffen Raffaels und Michelangelos war doch das Denken der Gelehrten und Künstler im Umkreis Karls des Großen oder der sogenannten gotischen Periode des Mittelalters mit antiker Wissenschaft und Kunst durchaus verbunden. Wir haben weiter erkennen gelernt, daß das Problem nicht nur ein europäisches ist. Die Spuren klassischen Denkens und Formens wurden ebenso in der Ornamentik Chinas wie in der großen Plastik Indiens nachgewiesen, die Kunst der islamischen Völker wurden wir als Auseinandersetzung mit dem hellenistischen Erbe anzusehen gelehrt. So hat sich uns die Einflußsphäre des griechischen Geistes wesentlich erweitert. Nun fragt sich, ist die Problemstellung: Wie weit reicht die Ausbreitung und worin liegt das Wesen des Einflusses der Antike auf die Völker: des Mittelalters und der Neuzeit – derart, daß ihre Bearbeitung noch weiterhin fruchtbringende Resultate zeitigen wird?
Fassen wir, um diese Frage zu beantworten, zuerst den Umstand ins Auge, daß die Antike ein Beharrendes im Völkerleben ist, dann wird deutlich, daß die Untersuchung der Stärke und Art ihres Einflusses zugleich die Klarlegung des Neuen und Nicht: Beharrenden sein muß, daß sie dem Historiker gleichsam einen Maßstab gibt, an dem er die Wandlungen der Erscheinung messen kann. Sassanidische Plastik und die Kunst der Renaissance stehen beide unter stärkstem antiken Einfluß. Wie sie sich mit diesem äuseinandergesetzt haben, läßt uns scharf das Eigentümliche beider Kulturen erkennen. Das Erfassen des Veränderlichen am Maßstab der Konstante wäre also die eine Frucht unserer Problemstellung.
Die zweite ist die Möglichkeit, die Wanderstraßen der Kultur aufzudecken; auf einer Karte, auf der die einzelnen Brennpunkte antiker Kultur und ihrer Nachfolge angegeben wären, würden mit größter Klarheit die Strömungen der Kultur hervortreten. Schon heute sehen wir deutlich die Kulturstraße, die von Athen über Bagdad nach Toledo, Florenz und Nürnberg führt. Und erst wenn wir diese Wege erkennen, wird uns etwas von der Kompliziertheit der Geschichte unserer eigenen Gedankensysteme offenbar werden, von den tausendfältigen Fäden, die zwischen Orient und Okzident hin und herlaufen, die. Nord und Süd miteinander verbinden, erst dann können wir überhaupt versuchen, unsere eigene Kultur historisch zu erfassen.
Und auch jenes Problem, das an der Schwelle unseres historischen Denkens steht, das Problem der Anwendung des Entwicklungs gedankens auf das historische Werden, ist ohne intensive Bearbeitung der Frage nach der Auseinandersetzung der mittelalterlichen und neuzeitlichen Völker mit der Antike nicht zu erfassen. Erst wenn wir uns nicht bloß extensiv die Ausbreitungssphäre des klassischen Denkens klargemacht haben werden, sondern jene viel größere und schwierigere Frage nach dem Wesen jenes Einflusses beantwortet sein wird, erst dann werden wir erfassen, ob wir in der Menschheitsgeschichte einander ablösende Kulturkreise – die Jugend, Leben und Sterben der Völkergruppen umfassen – oder eine immanente Höherentwicklung zu erblicken haben.
Unsere Problemstellung ist also zweifellos fruchtbar. In sonderbarem Gegensatz hierzu steht der Umstand, daß die Erforschung dieser Fragen noch tief in den Anfängen steckt, vor allem weil wir uns noch immer nicht von alten Problemstellungen befreien können. Für Winckelmann war – ebenso wie für die Renaissance – die Antike im wesentlichen etwas Einheitliches. Nun erkennen wir wohl den Reichtum und die Differenziertheit des griechischen Denkens, plastisch sehen wir den Menschen des 5. Jahrhunderts vor uns und in weitem Abstand von ihm den spätzantiken Menschen. Wir sehen deutlich neben der Religion des Phidias die Volksreligion – und trotzdem sprechen wir nur allzuhäufig vom Einfluß der Antike. Mühsame Arbeit wird es kosten, diese verschiedenen Einflußsphären säuberlich zu trennen. Auf die Renaissance wirkt Athen ebenso ein wie Alexandria, während byzantische, arabische und altchristliche Kultur in der Hauptsache hellenistischen und spätantiken Einfluß erfahren.
Wir werden jedoch nicht nur historisch zu gliedern haben, sondern auch schichtenweise; denn langsam erkennen wir die außerordentliche Kraft des Nachlebens der uns vielleicht tiefer erscheinenden Schichten im griechischen Geistesleben: Zauberei und Magie. Hier war das Griechentum nicht so sehr Schöpfer, als Bewahrer und Former urtümlicher menschlicher Anschauung.
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Es ist unmöglich, auf so wenigen Seiten. auch nur einen Begriff von dem Umfang und vom Packenden unseres Problems zu geben. Nun mag mancher schon die Größe des Problems erkannt haben, ohne einen Führer zu finden, durch dieses Labyrinth. Scheint es doch fast unmöglich, daß ein Einzelner auf diesem unübersehbar weiten Gebiet sich überhaupt so zurechtfindet, daß er jenen Punkt gewinnen kann, der ihm festen Halt bietet und die Möglichkeit, mit eigenem Forschen einzusetzen. Hier kann ihn die Bibliothek Warburg. leiten. Professor Warburg verfolgt seit fast dreißig Jahren die dargelegten, zum Teil von ihm erst so formulierten Probleme. Bei seinen Untersuchungen ist er von der Kunstgeschichte ausgegangen, denn das eminent plastische Denken der Griechen lebt vor allem im Bild fort; schon das Ziel seiner ersten Arbeit war, die Frage nach der Art der Beeinflussung des Frührenaissance-Künstlers durch die Antike zu beantworten, und in seinen jüngsten Arbeiten gelangt er dazu, einerseits die Wanderstraßen des antiken Denkens durch Orient und Okzident und anderseits die Offenbarungswege jener Schichten der menschlichen Psyche, die sich in Magie und Astrologie manifestieren, von Rom bis Wittenberg, vom heidnischen Augur bis zu Luther zu verfolgen. Um diese Arbeit zu leisten, mußte erst das Laboratorium dafür geschaffen werden, eine Bibliothek, die einen ganz spezifischen Ausschnitt aus dem geistigen Leben der Völker biete. Daß eine Bibliothek, die das Nachleben der Antike verfolgt, vor allem bildgeschichtlich gerichtet. Sein muß, braucht wohl nicht weiter erörtert zu werden; bei dem innigen Zusammenhang von formendem und religiösem Denken muß sie, aber ebensowohl religionsgeschichtlich gerichtet sein.
So sind denn Religionsgeschichtlich und Kunstgeschichte die beiden Hauptzweige der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Die religionsgeschichtliche Abteilung, die die Entwicklung von Babylon bis-zum Reformationszeitalter. Umfaßt, bietet als Kernstock eine reiche Sammlung von Untersuchungen zu jenen Phänomenen der antiken Religion, deren Nachleben von der Forschung bereits erkannt ist. Daß in der kunstgeschichtlichen Abteilung die Renaissance-Literatur weit überwiegt, ist bei der Geschichte unseres Problems (Burckhardt) selbstverständlich. Aus der Erkenntnis heraus, daß das illustrierte Buch ein Hauptvehikel des antiken Gedankens war, ist seine Geschichte in der Bibliothek reich vertreten. Die allgemeine Basis für das Spezialproblem bietet eine Sammlung bibliographischer und biographischer Werke, die allein es möglich machen, einen Überblick über das weite Problem zu gewinnen.
Professor Warburg stellt seine Bibliothek allen ernsthaft wissen schaftlich Arbeitenden zur Verfügung, denn sie soll nicht nur sein Handwerkszeug bilden, sondern einen Zentralpunkt der Erforschung der Frage nach dem Einfluß der Antike; und es steht zu hoffen, daß sich um die Bibliothek ein Kreis von Männern scharen wird, die ihre Arbeit in den Dienst der Beantwortung dieser Zentralfrage aller Geschichtsforschung stellen werden.
Die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (Hamburg, Heilwigstraße114) steht wissenschaftlichen Besuchern werktäglich von 5 bis 7 Uhr offen. Den Kern der Bibliothek – etwa 20000 Bände – bildet die Sammlung zu den oben dargestellten Problemen; ihm ist eine Kriegssammlung angegliedert, die etwa 1500 Nummern umfaßt und eine Kartothek von etwa 100000 Zettein, die einen Index zu den Kriegsjahrgängen von etwa 15 deutschen Zeitungen bilden.
English abstract
Fritz Saxl’s first article on the Warburg Library, Das Nachleben der Antike. Zur Einführung in die Bibliothek Warburg, was written for the “Hamburger Universitäte Zeitunge”, W. Sem, 1920/21, n. 4 II Jahrgang, Heft 11. The article briefly summarises the salient aspects of the Warburg Library, highlighting a multidisciplinary approach to the study of Antiquity.
keywords | Fritz Saxl; Aby Warburg; Warburg Library.
Per citare questo articolo / To cite this article: F. Saxl, Das Nachleben der Antike. Zur Einfühurung in die Bibliothek Warburg (1921), “La Rivista di Engramma” n. 198, gennaio 2023, pp. 23-27 | PDF of the article