"La Rivista di Engramma (open access)" ISSN 1826-901X

198 | gennaio 2023

97888948401

Die Bibliothek Warburg und ihr Forschungsprogramm

Martin Warnke

Michael Diers (hrsg. von), Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg & Warburg Institute, Hamburg 1993, 29-34.

English abstract

In den letzten Jahren hat man sich verschiedentlich Gedanken über die institutionengeschichtliche Bedeutung der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg gemacht. Ausgangspunkt dieses Interesses ist vermutlich die Einschätzung Ernst Gombrichs, daß die Bibliothek die eigentlich originäre Schöpfung Warburgs gewesen sei.

Ein spezifisches Kennzeichen der Bibliothek Warburg ist, daß sie als eine ‘Problembibliothek’ gedacht war. Nicht das Büchersammeln als solches, nicht einmal eine Bibliothek zur Kulturwissenschaft war der Zweck, sondern eine Büchersammlung, die ein Feld von Fragen bestellen und einer Forschungsaufgabe nützlich sein wollte. In dieser Bibliothek sollten die Bücher aber nicht nur verwaltet, sondern dort sollte mit ihnen zu einem bestimmten Fragenkomplex auch geforscht werden. Fritz Saxl hat die Aufgabe 1930 folgendermaßen benannt:

Das Problem ist das vom Nachleben der Antike. Unsere Aufgabe ist einmal, die geschichtlichen Tatsachen der Überlieferung zu untersuchen, die Wanderstraßen der Tradition aufzuzeigen, und zwar so allseitig als möglich, dann aber aus solcher Erkenntnis allgemeine Schlüsse auf die Funktion des sozialen Gedächtnisses der Menschheit zu ziehen.

So unverwechselbar die Problemstellung der Warburgschen Bibliothek bestimmt war, so sehr war sie doch in dieser Zielsetzung auch ein Produkt ihrer Zeit. Die Wissenschaft war noch nicht in staatlichen Großinstituten konzentriert. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft begann erst 1911 mit Institutsgründungen, und auch sie wurden privat finanziert. Der Staat hatte noch kein Monopol in der wissenschaftlichen und kulturellen Sphäre. An den verhältnismäßig wenigen Kunstgeschichtlichen Seminaren der Universitäten waren die Bi­bliotheken noch bis nach dem Krieg weitgehend bescheidene Handapparate, keine Forschungsinstrumente. Noch nicht lange war es her, daß aufgrund privater Initiative in Rom, und, mit Warburgs energischer Beteiligung, dann auch in Florenz kunsthistorische Fachbibliotheken entstanden waren. Dies alles geschah in einer wissenschaftsgeschichtlichen Phase, in der eine persönliche Anstrengung im Verein mit nicht geringen finanziellen Ressourcen durchaus noch die Chance hatte, einen wissenschaftlichen Spitzenrang zu erreichen. Diese Aussicht muß man in Rechnung stellen, wenn man den Elan verstehen will, mit dem in der Bibliothek Warburg ein Forschungsprogramm entwickelt wurde.

Aber auch die grundsätzliche, auf ein Problem hin orientierte Forschungs-Institution hat Aby Warburg zwar in einer avancierten Form, aber doch nicht als einziger verfolgt. In Bonn hatte er bei dem Historiker Karl Lamprecht studiert, der starke kultur – und kunstgeschichtliche Interessen hatte. Er gründete 1909 das “Königlich Sächsische Institut für Kultur und Universalgeschichte bei der Universität Leipzig”, das als das Mutterinstitut aller kulturwissenschaftlichen Institute bezeichnet werden darf. Es bestand aus einem Verbund von zwölf Instituten, der von einer Stiftung finanziert wurde. Es war das “erste aus privater Initiative entstandene geisteswissenschaftliche Lehr und Forschungsinstitut in Deutsch­land”. Drei Jahre nach seiner Gründung, 1912, wurde es für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, wohl vor allem deshalb, weil es einen Professorenaustausch mit Amerika vorgesehen hatte. In den gleichen Jahren unternimmt Warburg erste Schritte, seine Existenz als Privatgelehrter zu sichern und mit einer erlesenen Bibliothek zu untermauern. 1909 bezog er ein neues Haus und stellte seine ersten Assistenten ein, unter denen seit 1913 Fritz Saxl die wichtigste Persönlichkeit in seiner Umgebung werden sollte. Auch Lamprechts Institut hatte eine Problemstellung: Es sollten Dokumente gesammelt werden, die aus Volkskunde und Völkerpsychologie zusammengetragen seien, und die eine “Untersuchung der seelischen Regungen des Menschen auf den verschiedensten Gebieten von hoher vergleichender Warte aus” ermöglichen sollten; die also – so würde man heute vielleicht sagen – eine Geschichte der Mentalitäten zum Zwecke der Erhellung gegenwärtiger Mentali­täten erstellen sollten. Obwohl Lamprechts Unternehmung durch den Ersten Weltkrieg nicht recht zur Entfaltung kam, hatte er mit seiner Idee doch viele angeregt, in die gleiche Richtung zu gehen. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit ihren “Hilfsinstituten” gehört zu diesen Nachwirkungen ebenso wie das Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln. Im Grundsatz gingen alle davon aus, daß bestimmte Probleme nicht mehr durch die Lei­stungskraft eines Privatgelehrten allein zu bewältigen seien, sondern daß sie von einem Verbund von sachlichen und personellen Mitteln längerfristig zu bearbeiten waren. Im Jahre 1911 hatten drei Gelehrte via Rundschreiben bei fünfundzwanzig Professoren angefragt, ob es eines “Instituts für Rechtsphilosophie und soziologische Forschung” bedürfe, damit die Parlamente bei ihrer Gesetzgebungsarbeit auch die sozialen Implikationen berücksichtigen könnten. Das Kölner Institut wurde dann 1918 tatsächlich gegründet, um – so erklärte Chri­stian Eckert gegenüber dem damaligen Oberbürgermeister Konrad Adenauer – “Einblicke in die Voraussetzungen für die Umgestaltung und Wandlungen der sozialen Verhältnisse zu gewinnen”. Auch der Kieler Soziologe Ferdinand Tönnies plante ein “soziographisches moralisches Observatorium”, das aus vielen “kleinen Zentren für die Beobachtung und Un­tersuchung des Volkslebens” bestehen sollte.

In einem zweibändigen Sammelwerk, dem wir diese Informationen verdanken, das Ludolph Brauer 1930 herausgegeben hat und das Forschungsinstitute in Deutschland vorstellte, steht der Bericht von Fritz Saxl über die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg unmittelbar neben dem Beitrag über das Frankfurter “Institut für Sozialforschung”, das dann unter dem Nationalsozialismus ebenfalls als eine jüdische Gründung ins Exil gehen wird.

Allen diesen Instituten war inhaltlich das eine Interesse gemeinsam, daß der Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit und ihr Erkenntnisziel die kulturelle, soziale und psychische Verfassung der Gegenwart, des modernen Menschen war. In der Bibliothek Warburg war dieses Interesse am stärksten in eine historische Dimension eingelagert und auch durch einen entsprechenden Bücherbestand prädisponiert. Dies hat dazu geführt, daß in den Veröffentlichungen der Bibliothek Warburg sowohl der Hamburger wie der Londoner Zeit ein konstanter Themenkreis behandelt und vorangetrieben worden ist. Vor allem die Zeit­schrift, die das Warburg Institute in London gegründet hat, war Trägerin dieser erstaunlichen thematischen Konstanz, in der sich zugleich die Kontinuität zum Ursprung der Bibliothek hin am Leben erhielt. Die “Nachwirkung der Antike ist eine sachliche Umschreibung des Problems, das Warburg der Biblio­thek gestellt hatte. Daraus konnte sich eine fast unübersehbare Abzweigung von Einzel und Unterthemen ergeben. Für Warburg war diese Nachwirkung zusammengeführt in einer Funktion: Das soziale Gedächtnis der Menschheit hat die Antike immer dann positiv angerufen, wenn die Menschen sich aus einer Not oder Gefahr befreien wollten”. Fritz Saxl gibt an, es sei Warburgs Ziel gewesen, “aus seiner eigenen inneren Bewegtheit heraus den Akt der Befreiung des Hellenischen aus der Umklammerung des Hellenismus, die Befreiung des Abendlandes vom Geist des Orients, die Schönheit der Befreiung des Individuums aus den Ketten des Kosmos zu schildern”. In diesem Konzept ist das ‘Hellenische’ eine konstante Größe. Die negativen, irrationalistischen und inhumanen Momente, die Burckhardt und Nietzsche in der Antike entdeckt hatten, waren in Warburgs Antikenbild aufgehoben. So kann man den Eindruck haben, daß das Antikische für Warburg nicht eine historische oder archäologische Materie ist (weshalb auch die wissenschaftliche Archäologie im Umkreis der Bibliothek ausgeklammert blieb), sondern eher eine Metapher für eine Energie, die den Menschen immer wieder befähigt, sich selbst aus Not und Verblendung zu befreien; für die aufklärerischen Selbstheilungskräfte, die der Mensch aufzubieten vermag.

Es ist ein Charakteristikum des Warburgschen Denkens und Forschens, daß es weniger die Heilmittel als die Leidensgründe, nicht die Rezepte, sondern die Krankheiten, nicht das Schöne, sondern das Häßliche, das jenes erst notwendig macht, ins Auge faßt. Entsprechend werden an der nachwirkenden Antike nicht vor allem die ästhetischen Vorbildleistungen und die kanonisierten Kunstformeln herausgestellt, sondern eher die Verpuppungen, Verballhornungen, Verdrängungen jener fortwirkenden Formeln. Ein Hauptfeld, in das die Antike in der christlichen Ära verbannt und in dem sie gebannt wurde, war die Astrologie. Die Freundschaft mit Franz Boll gab diesem Interesse an den in den Sternbildern nachwuchernden griechischen Mythen ein wissenschaftliches Fundament, das Fritz Saxl durch seine Verzeichnisse astrologischer Handschriften für immer sicherte. Warburg selbst hatte in den Renaissancefresken des Schifanoia-Palastes in Ferrara die antiken Verpuppungen offengelegt, die über eine arabische Handschrift, den Picatrix, übermittelt waren. Die Edition und Übersetzung dieser Handschrift gehört zu den großen Editionsprojekten der Bibliothek, die von der Hamburger in die Londoner Zeit hin­überreichen. In keiner anderen geisteswissenschaftlichen Zeitschrift haben Themen aus der einst so hochgeschätzten astrologischen Wissenschaft so oft Aufnahme gefunden wie in dem “Journal of the Warburg and Courtauld Institutes”. Der Glaube an die Sterne gehört zu dem bis weit in die obersten Gesellschaftsränge reichenden ‘Volksglauben’. Zu ihm zählen auch die Vorstellungen von Monstern und Dämonen, in denen sich die existentiellen Bedrohungen der Menschen inkarnieren. In den Stereotypen, die Menschengruppen über andere Menschengruppen ausbilden, entfalten jene Ängste ihre aggressiven Potenzen. Diese volkstümlichen Obsessionen wurden einem fortwirkenden Primitivstadium menschlicher Entwicklung zugerechnet, das von der griechischen Kultur überwunden worden war. Um dieses Primitivstadium kennenzulernen, hatte Warburg in Amerika die Pueblo-Indianer in Neu-Mexiko besucht. An deren Ritualen und abergläubischen Bewältigungstechniken ließ sich das Ausmaß der Aufklärungsleistung ermessen, das die Griechen für die Menschheit durch ihr rationales und wissenschaftliches Denken erbracht hatten. In Dürers Melancholie-Blatt wiederholte sich nach Warburg diese Leistung, indem es sich als ‘humanistisches Trostblatt’ gegen die Stern und Saturnfürchtigkeit ansehen ließ. Die Auseinandersetzung mit dem Gehalt dieses Blattes gehört ebenfalls zu den Dauerthemen, die im Umkreis der Bibliothek Warburg bis in die jüngste Zeit hinein zur Sprache kamen.

Der Astrologie lag die Auffassung zugrunde, daß eine unmittelbare Wechselbeziehung zwischen Mensch und Kosmos die menschlichen Empfindungen, Verhaltensweisen und Handlungen bestimmt. Der Philosoph Ernst Cassirer hat dieses Warburgsche Thema in seinem Buch über Individum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance aufgegriffen, indem er die Befreiung des Individuums aus den Ketten des Kosmos als eine über Wie­deraufnahme antiker Denkenergien erschlossene Möglichkeit modernen Denkens rekonstruierte. Das Buch ist Warburg zum 60. Geburtstag gewidmet und in den “Studien der Bibliothek Warburg” 1927 erschienen.

Wie die Antike in der Renaissance bei der Befreiung des Menschen von mittelalterlich-religiöser Befangenheit, wie Jacob Burckhardt es vorgezeichnet hatte, Pate stand, ist das wichtigste Thema, das Philologen, Philosophen, Wissenschaftshistoriker und Kunsthistoriker in der Bibliothek Warburg bearbeitet haben. Warburg selbst hat schon früh die positivi­stischen Grundlagen solcher Forschungen erstellen helfen, indem er Paul Gustav Hübners Forschungen zur Rekonstruktion von Antikensammlungen auch mithilfe von Antikennachzeichnungen der Renaissance unterstützte. Die Skizzenbücher mit Antiken­nachzeichnungen sind bis heute ein fester Bestandteil im Veröffentlichungsprogramm des Warburg Institute geblieben, wie auch der von Saxl begründete Census der in der Renaissance bekannten Antiken noch immer in Gang ist.

Die Nachwirkung der Antike war in der Vorstellung Warburgs nicht ein kunsthistorisches, sondern ein interdisziplinäres Forschungsprogramm. Die Antike hat ihre Nachwirkung in allen Sparten der Geisteswissenschaften, aber auch in anderen Bereichen des Lebens gehabt. Schon in der Renaissance hatten nach Warburg Ausdrucksformen, Bewegungsformen und Handlungsformen der antiken Kunst den Menschen geholfen, psy­cho-physisch den Ansprüchen der modernen Welt gerecht zu werden. Aus dem Arsenal der Antikenüberlieferung bezieht das humanistische Individuum die Muster seines Selbstbewußtseins. Die Wissenschaften speisen ihren Drang zu einer erkenntnisleitenden Rationalität aus antiken Vorprägungen. Sowohl städtische wie fürstliche Regimente bedienen sich immer häufiger antiker Mythen und Personifikationen zur Maskierung oder zur Idealisierung ihrer politischen Ziele und Programme.

Zu all diesen Sphären des Antikeneinflusses hat die Bibliothek Warburg von Beginn an und durch das Warburg Institute bis heute sowohl editorische wie interpretatorische Beiträge geleistet. Seinen Brüdern gegenüber hat Aby Warburg den “seelischen Ort”, an dem sich “innerhalb der forschenden Welt die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg” befindet, folgendermaßen beschrieben: “Sie bedeutet in dem noch ungeschriebenen Handbuch der Selbsterziehung des Menschengeschlechts ein Kapitel, das den Titel haben könnte: Von der mythisch-fürchtenden zur wissenschaftlich errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem Kosmos gegenüber”.

Nicht jeder der von der Bibliothek Warburg gedruckten wissenschaftlichen Beiträge und Texte wird sich in den Erwartungshorizont des Bibliotheksgründers hineinstellen lassen; und nichtsdestoweniger trägt er auf irgendeine Weise zu einer Problemstellung bei, die durchaus noch nicht erledigt ist.

English abstract

In this contribution, excerpted from the book edited by Michael Diers, Porträt aus Buchern (Hamburg 1993), Martin Warnke tells us about the Warburg Library and its research activity. The author starts with a survey of the German research institutions of the time, as well as how Warburg's upbringing influenced his way of doing research, and then continues with an examination of the core areas of study pursued by the library: the consequences of antiquity, not to be understood as a historical-artistic but as an interdisciplinary research agenda, applicable to the humanities but also to other areas of life. 

keywords | Aby Warburg; Warburg Library; Astrology; Nachleben; Franz Boll; Fritz Saxl.

Per citare questo articolo / To cite this article: M. Warnke, Die Bibliothek Warburg und ihr Forschungsprogramm, “La Rivista di Engramma” n. 198, gennaio 2023, pp. 171-177 | PDF of the article 

doi: https://doi.org/10.25432/1826-901X/2023.198.0022