"La Rivista di Engramma (open access)" ISSN 1826-901X

211 | aprile 2024

97888948401

Ein vergessener Aufsatz von Fritz Rougemont über Warburgs Bibliophilie als wissenschaftliches Instrument (1930) 

herausgegeben von Monica Centanni, Giacomo Calandra di Roccolino

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Einleitende Bemerkungen zum Aufsatz von 1930 und zum Autor 

Monica Centanni

Hans Joachim Staude, Fritz Rougemont (1922)

Der Name Fritz Rougemont ist den Warburg-Forschern bekannt, weil er zusammen mit Gertrud Bing als Mitherausgeber der 1932 im Teubner-Verlag Leipzig erschienenen Aby Warburg-Ausgabe Gesammelte Schriften auftritt. Wir stellen hier einen wichtigen Beitrag von ihm vor, der 1930, wenige Monate nach Warburgs Tod, im ersten Band von “Imprimatur", dem Jahrbuch der “Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg”, veröffentlicht wurde. 

Das Jahrbuch “Imprimatur” wurde 1930 von der “Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg” gegründet. Nach 1936 wurde von der “Gesellschaft der Bibliophilen” angekauft avancierte das Jahrbuch zur wichtigsten Eigenpublikation der Gesellschaft. 1954/55 erschien der letzte “imprimatur”-Band der alten Folge. Drei Jahre später 1958 kam der erste Band der neuen Folge heraus, dessen Aufsätze den Schwerpunkt auf die venezianische Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert legten. Nach dem Tod des bisherigen Herausgebers von “Imprimatur”, Siegfried Buchenau, im Jahr 1964, waren die Herausgeber Konrad F. Bauer (nur für Band V, 1967), Bertold Hack und Heinz Sarkowski die Nachfolge. Bibliographische Interessen und rein kunsthistorische Fragen traten nun gegenüber Anregungen für Sammler in den Hintergrund. Seit 2003 erscheint das Jahrbuch wieder in zweijährlichem Rhythmus, neue Herausgeberin ist Ute Schneider. “Imprimatur” wendet sich gleichermaßen an Antiquare, Privatsammler, Buchhistoriker, Bibliophile und Buchkunstliebhaber. Die Beiträge decken ein breites Spektrum an Bereichen ab, vom Sammeln bis zur Restaurierung, von Inkunabeln bis zu Einbänden und aktuellen Trends in der Illustration und Buchgestaltung (siehe Website des Jahrbuchs).

Der Ruhm von Fritz Rougemont (1904-1941) ist also fast ausschließlich mit seiner Mitkuratierung der deutschen Ausgabe der Schriften Warburgs durch Bing verbunden; in Rezensionen von Studien über Petrarca wird gelegentlich seine Arbeit an einem hypothetischen Porträt des Dichters erwähnt, das in demselben Jahrbuch “Imprimatur” (Rougemont 1937) und der Ausgabe einiger Schriften Petrarcas (Rougemont 1939) veröffentlicht wurde. 

1929 wurde der junge Rougemont an der Kulturwissenshaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg angestellt, um an einer Reihe von Transkriptionen und Übersetzungen aus dem Niederländischen ins Deutsche (insbesondere für die Barockforschung von Johannes Albertus Franciscus Orbaan) und ins Italienische zu arbeiten, wie Saxl in einer Reihe von Briefen an Warburg vom 25. Februar [WIA GC/24956], 22. März 1929 [WIA GC/25087], 1. Juni 1929 [WIA GC/25014] berichtet. Was die Petrarca-Studien betrifft, so ist die Beziehung zu Arturo Farinelli, der ihm Material über Petrarca schickte, wie Rougemont selbst in einem Brief an Saxl vom 5. Juli 1929 [WIA GC/24336] berichtet, und wie aus einer Notiz von Bing vom 26. Oktober 1929 (Tagebuch, GS, 555) hervorgeht, eine Untersuchung wert.

Fritz Rougemont nahm jedoch bereits 1927 an den Aktivitäten des KBW teil und war insbesondere bei Warburgs Seminar über Burckhardt auf dem Sommerseminar in diesem Jahr anwesend (Sears 2012, 38 und n. 1; zu dem Seminar siehe: Roeck 1991, und allgemeiner zu den von Warburg am KBW veranstalteten Seminaren siehe Seminario Mnemosyne 2007 und Mazzucco 2007). Ein Brief zwischen der Institutsleitung und einer Krankenkasse datiert Rougemonts Arbeitsvertrag vom 1. Januar bis zum 31. Mai 1929 [WIA GC/23110], aber die Zusammenarbeit wurde in den folgenden Monaten sicherlich aktiv und kontinuierlich fortgesetzt, wie die Korrespondenz und einige Notizen im KBW-Tagebuch zeigen.

Aus einer Notiz Warburgs von Ende September 1929 geht hervor, dass Rougemont mit einer wichtigen Aufgabe im Rahmen des Bibliotheksprojekts betraut worden war:

Warburg | Rougemont schon seit Wochen beauftragt, einen vernünftigen Prospekt für die KBW.
(c. 27. September 1929, GS Tagebuch, 536)

Wie aus einer Notiz im selben Tagebuch hervorgeht, bespricht Warburg am Abend des 23. Oktober 1929 mit Rougemont einige Bilder der Picatrix, an denen die KBW-Gruppe arbeitet, im Hinblick auf ihre Integration in den Atlas. 

Warburg | Nachmittags Ueber Picatrix vor erweitertem Quartett (Mary, Frede, Meyer, Jaffé, Freund, Rougemont). War inhaltsreich und sehr förderlich für Jaffé und Meyer, aber sonst entsprach ich nicht meinen Erwartungen. Hatte vorher Promemoria für von Wrochem geschrieben 
Bing | Der Abend war, wenn er auch gezeigt hat, daß die ganze Frage für den Atlas noch nicht ganz so darstellbar ist, doch sehr lehrreich und als Zusammenarbeit unter lebhafter Beteiligung der andern höchst erfreulich. War auch, für jeden nach seiner Art, folgehaft.
(23. November [sic! richtiger Oktober] 1929, GS Tagebuch, 552-553).

Aus Bings Aussage geht hervor, dass die Arbeit an diesem thematischen Kern noch nicht bereit war, im Atlas aufgenommen zu werden, aber die Notiz ist eine Bestätigung dafür, dass Rougemont bis zu seinen letzten Lebenstagen auch aktiv mit Warburg am Mnemosyne-Projekt zusammengearbeitet hat.

Zwei Tage später notiert Warburg also im Tagebuch:

Warburg | Veranlasse Rougemont die zitierten Quellen als Desiderata einzutragen.
(25 ottobre 1929, GS Tagebuch, 555)

Andererseits wird Rougemonts direkte und gründliche Kenntnis der Mnemosyne-Materialien in mehreren Abschnitten seines Aufsatzes von 1930 bestätigt, die wir hier wiedergeben; an einer Stelle seines Beitrags schreibt Rougemont:

[Warburg] sammelte er die Literatur, die heutzutage bildhaft zuordnendes Denken in Magie und Astrologie weiterdenkt, sammelte er die Spätlinge antiker Formensprache, Briefmarke und Reklamebild, sammelte photographische Aufnahmen bedeutsamer Ereignisse, Ausschnitte aus der Presse, und endlich jene Zeitungsbilderbogen, die – jüngste Nachkommen des Einblattdrucks – in ihrer wunderlichen Zusammenstellung Charakter und Tendenz der Gegenwart offenbaren. 

Der Verweis bezieht sich eindeutig auf die Materialien in den letzten Tafeln des Atlas, insbesondere auf die illustrierten Beilagen aus der Zeitschrift “Hamburger Fremdenblatt”, die in der Montage des Mnemosyne Atlas Tafel 79 enthalten sind.

Aus den obigen Ausführungen geht also hervor, dass Fritz Rougemont nicht nur bei der 1932 erschienenen Ausgabe vom Warburgs posthumen Werk eine wichtige Rolle als Mitherausgeber spielte. Bereits im letzten, intensiven Lebensjahr Warburgs und insbesondere im Herbst 1929, nachdem Warburg und Bing von ihrer Italienreise nach Hamburg zurückgekehrt waren, gehörte Rougemont zum engen Mitarbeiterkreis des KBW und war aktiv an den Forschungsseminaren, dem Bestellprojekt der Bibliothek und dem in fieri Geschehnis des Atlas beteiligt.

In den Jahren unmittelbar nach Warburgs Tod sollte Fritz Rougemont innerhalb des Warburgkreises eine herausragende Rolle spielen, wenn er als Gertrud Bings Mitarbeiter für die Herausgabe von Warburgs Gesamtwerk eingesetzt werden sollte. Es stellt sich die Frage, warum seine Person und insbesondere der wichtige Aufsatz, den wir hier wiederveröffentlichen, in der kritischen Literatur der Warburg-Studien in Vergessenheit geraten ist. 

Maja Einstein, Fritz Rougemont e Paul Winteler a casa ‘Samos’, Quinto Fiorentino.

Die Antwort auf diese Frage liegt in der dornigen biografischen Geschichte Rougemonts: In der Verknappung der Informationen finden sich einige Daten zu seiner Biografie in den Materialien, die auf der dem Maler Hans-Joachim Staude (1904-1973) gewidmeten Website veröffentlicht sind, der Rougemonts Altersgenosse und Schulkamerad in Hamburg war. In dem schönen Essay Einsteins Flügel. Eine Chronologie erzählt Jacob Staude einige Fakten der Freundschaft zwischen Fritz und seinem Vater, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1923, nach dem Abitur, begleitete Fritz, auf den Spuren von Warburgs Jugendreise und in der Absicht, seine italienischen Bildungserfahrungen nachzuvollziehen, seinen Freund nach Florenz, wo er Maja Einstein, Alberts Schwester, kennenlernte und mit ihrem Kreis intim wurde. Maja nahm ihn unter ihre Fittiche und schrieb über ihn: “Fritz hat eine feine und gute Seele. Er ist der einzige Mensch, dem ich bisher begegnet bin, der, sobald er hört, dass mir etwas peinlich, unangenehm oder schmerzhaft ist, immer gleich darauf sinnt, wie er es mir abnehmen könnte. Das ist doch – namentlich für einen so jungen Menschen – außerordentlich selten”. In den folgenden Jahren kehrte Rougemont nach Hamburg zurück, wo er sich im KBW engagierte und in engem Kontakt mit Maja und dem intellektuellen Kreis in Florenz blieb. 1931 verbrachte er zusammen mit Gertrud Bing weitere fünf Monate in Florenz, besuchte Bibliotheken und Archive und sammelte Daten für die im folgenden Jahr veröffentlichten vollständigen Schriften. 1933, im Jahr der Machtergreifung Adolf Hitlers, schloss sich Rougemont mit Begeisterung der nationalsozialistischen Ideologie an. Unter seinen intellektuellen Freunden, von denen viele jüdischer Herkunft waren (berühmt ist Albert Einsteins Entscheidung, nicht von Princeton nach Deutschland zurückzukehren), herrschte großes Erstaunen und Unglauben über Fritz' Entscheidung; Maja selbst weigerte sich lange Zeit, an sein Bekenntnis zum Nationalsozialismus zu glauben und verteidigte ihren Freund jahrelang gegen alle Beweise in Briefen an gemeinsame Freunde, bis auch sie sich den objektiven Tatsachen beugen musste. Fritz Rougemont, der Maja bereits 1939 das Bändchen mit seinen schönen Petrarca-Übersetzungen geschickt hatte, bekannte sich 1941 bis zum Schluss zum Nationalsozialismus und fiel als überzeugter Nationalsozialist an der Ostfront.

Dies sind die biografischen Ereignisse und ganz allgemein die historischen Koordinaten, die die entscheidende damnatio memoriae der Figur Fritz Rougemont bewirkten und auch die Spuren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit fast vollständig auslöschten. 

Der Aufsatz - den wir hier in einer neuen Ausgabe der deutschen Originalfassung von 1930, in der ersten englischen Übersetzung und in der ersten italienischen Übersetzung veröffentlichen - ist ein primäres Zeugnis der besonderen gelehrten Deklination von Warburgs “Bibliophilie”, indem er auf originelle Weise und mit wichtigen hermeneutischen Einsichten seine beispiellose Studienmethode, die Analyse der Mechanismen der klassischen Tradition und die innovative Verfolgung seiner Forschung angesichts der geltenden disziplinären Diktate beleuchtet. Es ist ein Text voller Leidenschaft, geschrieben in der Hitze des Gefechts einige Monate nach jenem Abend im Oktober 1929, als der junge Fritz Rougemont mit Warburg, drei Tage vor dessen Tod, mit Bing und anderen darüber diskutierte, wie die Picatrix-Bilder in Mnemosyne integriert werden könnten. 

Bibliographie 
Aufsätze und Kuratorien von Fritz Rougemont
  • Rougemont 1930
    F. Rougemont, Aby Warburg und die wissenschaftliche Bibliophilie, “Imprimatur” I (1930), 11-17.
  • Rougemont 1937
    F. Rougemont, Ein neues Petrarca-Bildnis, “Imprimatur oder Jahrbuch für Bücherfreunde”, 7 (1937), 11-30.
  • Rougemont 1939
    F. Rougemont (Übersetzt und herausgegeben von), Der Bücherfreund. Eine Auswahl aus Schriften, Briefen und Gedichten Francesco Petrarcas, Berlin 1939.
  • Bing, Rougemont 1932
    G. Bing, F. Rougemont, unter Mitarbeit von F. Rougemont, herausgegeben von G. Bing, Aby Warburg, Gesammelte Schriften, Leipzig-Berlin 1932.
Bibliographische Referenzen

Aby Warburg und die wissenschaftliche Bibliophilie (1930*)

Fritz Rougemont, herausgegeben von Giacomo Calandra di Roccolino, Monica Centanni

English version | Traduzione italiana

aus “Imprimatur” I (1930), 11-17.

Mit dem Tode Professor Aby Warburgs (26. Oktober 1929) hat die “Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg” eines ihrer ältesten und tätigsten Mitglieder verloren. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, nicht jetzt, nicht an dieser Stelle, des Gelehrten oder gar des Menschen Warburg in seiner ganzen Tiefe, des Reichtums und der Vielseitigkeit seiner geistigen Energien zu gedenken. Ebensowenig aber möchte die bloße Chronik seiner Tätigkeit im Rahmen der Gesellschaft, wie lebhaft sie sich auch in Vorträgen und Anregungen äußerte, am Platze sein. So anspruchsvoll das eine, so ungenügend scheint das andere. Denn Warburg gehörte zu jenen Menschen, deren Reichtum bei aller Aktivität sich nicht im Tun erschöpft. Es ist ihre eigentliche Bedeutung und zugleich der unschätzbare Gewinn, den andere aus ihrer Nähe empfangen, daß sie mehr sind als sie tun, daß die tiefste Anregung, die sie geben können, ihrem Dasein entspringt, den Kräften, Spannungen, Problemen, an die ihr Dämon sie wie uns heranzwingt.

Von einem Vermächtnis also wird, wenn überhaupt, zu reden sein, von Aufgaben mehr noch als von Resultaten, von der Bedeutung, die Warburgs Forschung für die bibliophile Arbeit haben könnte, haben sollte. Daß er selbst von früher Jugend auf ein passionierter Freund des Buches war, daß alles Sammeln und Suchen von Büchern auf einer ursprünglichen Sympathie beruhte und in ihr seinen immer erneuten Antrieb fand, wollen wir vorausschicken. Warburg steht damit nur in jener großen Reihe von Humanisten, für die, seit den Tagen der Renaissance bis zu Burckhardt hin, Bildung und Buch eine untrennbare Einheit bedeuten. Das Ethos der Bildung, die Verantwortung, mit anderen Worten, vor dem Erbe antikabendländischer Kultur führte Warburg zum Buch. Es wurde ihm so sehr eine Quelle des Wissens wie ein Weg der Selbsterziehung und – gestaltung.

“Das Buch ist eines der unbekanntesten Mittel der Selbstbildung” pflegte er zu sagen. Und er verstand zu lesen; er verstand es in einem weiten und neuen Sinne, der schließlich jede menschliche Äußerung vom entwickelten Wort bis zum vorbegrifflichen Bilde kühn umfaßte. Wie Warburg, wo er ging und stand, auf kurzen und weiten Reisen, sich von seinen Büchern umgeben wissen wollte, so begleiteten sie ihn auch bis in die entlegensten Gebiete seiner Forschung. Man kann sagen, daß er mit seinen Entdeckungen auf geistesgeschichtlichem Gebiete das Buch und seinen Wert als Quelle, als Dokument vielfach erst mitentdeckte. Seine Tendenz, zu lesen, wo er sah, hat tiefere Wurzeln als ein bloßes bibliophiles Interesse. Auch dachte er nicht daran, die Gestaltungen einer menschlichen Ausdrucksform durch Analogien aus einer anderen voreilig zu deuten. Aber seine besondere Vorstellungsart, die die Grenzen zwischen den einzelnen ‘Formen’, wie eine späte Geographie der Erkenntnis sie gezogen hatte, leidenschaftlich durchbrach und verwischte – freilich um sich zur neuen Scheidung immer wieder hindurchzuringen –, diese Vorstellungsart eröffnete ihm das Verständnis einer geschichtlichen Welt, in der sich unter der Herrschaft des Mythos und seiner Symbole Kunst, Wissenschaft und Religion noch ungeklärt zu einer Einheit zusammenfügten. Es galt, diese Symbole zu lesen; es galt, Wort und Zeichen, Buch und Bild gleichermaßen als ihre Träger zu erkennen.

Eine solche Schätzung des Buches ist keineswegs für den Kunsthistoriker, der Warburg ursprünglich war, eine Selbstverständlichkeit. Die ästhetische Interpretation wird nie das Kunstwerk als solches aus seinem Stoff oder aus dem Leben seines Schöpfers begreifen wollen. Die literarische Quelle, die beides liefert, ist für sie Dienerin, nicht mehr. Erst Warburgs entschiedenes Fortschreiten von der rein ästhetischen Ansicht des Kunstwerks zur kulturwissenschaftlich-ikonographischen, sein vertieftes Verständnis für das, was bildhafter Ausdruck auch jenseits und vor aller ‘Kunst’ im Ganzen menschlicher Symbolik und ihrer Geschichte, ihrer Wandlungen und Wanderungen bedeutet, sprengte die alten Grenzen.

Bildhaftes Denken erschöpft sich nicht im Kunstwerk. Die Kunst im reiner, Sinne der Ästhetik ist eher die späte Verklärung und Humanisierung der allgemeinen mythischen Weltansicht. Immer wieder muß sie das Bild erst aus den Fesseln der Magie und Astrologie befreien, um es im “reinen Schein” sich gegenüberzustellen. Auch sie nimmt auf ihre Art an dem Kampfe teil, den die Wissenschaft, freilich mit anderer Radikalität und unter eigenen Prinzipien, führt. Mit anderer Radikalität: es ist die Eigenart der künstlerischen Gestaltung, daß sie die mythische Ausdrucksformel nicht vernichtet, daß sie vielmehr das Pathos der elementaren “Bilder”, von Tod, Opfer, Raub, Verfolgung, in sich aufnimmt und gebändigt bewahrt. Erst diese Eigenart rechtfertigt vollends Warburgs Methode. Noch die Werke eines Raffael, eines Dürer, eines Rembrandt wollen gelesen und geschaut werden. Sie stehen bei aller genialen Einzigartigkeit so gut in der Tradition des bildhaften Denkens wie in jener der künstlerischen Anschauung.

Es versteht sich, welche Fülle neuer Perspektiven diese Erkenntnis dem Forscher eröffnet. Mit bewußter Konsequenz werden hier alle Lebensäußerungen zusammengesehen, ihre Grenzen übersprungen, um sie schließlich im geschichtlichen Prozeß neu entstehen zu sehen. Das Problem solcher Entstehung, solcher Lösung und Befreiung tritt in den Kreis geschichtlicher Untersuchung, ist es nur einmal erkannt, ist es ferner – und das gilt insbesondere für Warburg – in der Frage der Auseinandersetzung des abendländischen Geistes mit dem antiken Doppelerbe freier bildnerischer Humanität und dunkler Dämonengläubigkeit zur Fülle greifbarer historischer Probleme konkretisiert, so erschließt sich der geistesgeschichtlichen Forschung in der Tat ein völlig unbearbeitetes, bislang sprödes und verachtetes Material “redender” Quellen. Der pathetische Gehalt eines Kunstwerks tritt in die engste Nachbarschaft zu den Empfindungen und Gedanken, Bräuchen und Festlichkeiten der sozialen Gemeinschaft und damit zu jenen Dokumenten des Alltags, in denen sie ihren unmittelbaren, durch nichts verfälschten Niederschlag gefunden haben. Warburg hat auf diese Weise, um ein Beispiel zu nennen, an Hand von Brief und Urkunde, Inventar und Testament die geistige Welt des Mediceerkreises wie der Florentiner Kaufleute sich zu vergegenwärtigen gesucht, um aus ihr heraus die Schöpfungen eines Botticelli, eines Ghirlandajo zu verstehen. Das gesamte, reichbewegte Leben einer Zeit wurde hier “abgehört”, seine Spannungen, wie Warburg es oftmals sagte, mit der Präzision und Feinfühligkeit eines “Seismographen registriert”. In diesen Kreis von Quellen tritt als später Bruder das Buch. Und hier ist denn auch Warburgs eigentliche Bedeutung für die Bibliophilie zu suchen. Seine völlig neue Art, das Buch für alle Gebiete historischer Forschung kulturpsychologisch auszunutzen, mußte der systematischen Bücherkunde und pflege, wie er sie selbst einst in der Gründungssitzung der Hamburger Gesellschaft forderte, unmittelbar zugute kommen. Freilich, die Bibliophilie im engeren und kunstgewerblichen Sinne kommt dabei nicht auf ihre Rechnung. Warburgs Problemstellung führte ihn wie auf dem Felde seiner besonderen Wissenschaft, der Kunstgeschichte, in eine andere Richtung. Nicht dem schönen, sondern dem “interessanten” Buche, der wissenschaftlichen, nicht der ästhetischen Bibliophilie galt seine Arbeit.

Es möchte vielleicht auf den ersten Blick so scheinen, daß oft genug die bloße Passion eines Sonderlings ihn auf das Seltsame, Entlegene, das Kuriosum hingewiesen hätte. Groschenliteratur der Vergangenheit und Gegenwart, krause Mißgeburten einer vom Aberglauben emporgetriebenen Publizistik lebten da wieder auf, Dokumente, die ein anderer Historiker übersehen hätte, übersehen, um sich damit – wie Warburg es einmal formuliert – “das Kuriosum als tiefreichendste Quelle völkerpsychologischer Einsicht zu verschütten”. Gerade der Renaissanceforschung geben sie ja, wie wir sahen, eine bedeutungsvolle Wendung. In den Äußerungen des Alltags, in den Broschüren, die – für den Tag und die Stunde bestimmt – das wirkliche Leben der Menschen mit seinen Ängsten und Hoffnungen als Weissagung, als astrologischer Kalender oder hermetische Praktik, als religiöse oder politische Flugschrift widerspiegeln, in ihnen manifestiert sich die tatsächliche kulturelle Situation am unmittelbarsten. Das gleichsam unterirdische Fortfließen von Bildgläubigkeit und Bildtradition, Grad und Charakter der Antikenrezeption, werden offenbar. Es kommt hinzu, daß das gedruckte Buch in den Zeiten seiner Anfänge und ersten Verwendung zum entscheidenden Vehikel der Entwicklung wird. Handschrift, Altarbild, Wandteppich hatten bis dahin mühsam und umständlich den Dienst internationalen Kulturaustausches versehen; sie sind die Vortruppen, in denen Norden und Süden mit ihren gedanklichen wie künstlerischen Ausdrucksmitteln um das klassische Erbe ringen. Was nun aber diese schwerfälligen Boten ersetzt, was eigentlich erst, in einer seelisch gelockerten Zeit, die große Überflutung Europas mit klassischen Bildformen aber auch antikheidnischem Bildzauber ermöglicht, das ist ein ungleich leichteres, behenderes, volkstümlicheres Mittel des Austausches: das Buch.

In der “Gesellschaft der Bücherfreunde” selbst hat Warburg einmal in einem Vortrag eine solche Wanderung antiker Bildformen vom oberitalienischen Kartenspiel bis zum Lübecker “Nygen Kalender” des Steffen Arndes verfolgt:

Für die wissenschaftliche Bibliographie, heißt es da, ergibt sich als sicheres Ergebnis, daß dieser Kalender von 1519, der nur ein naives Erzeugnis volkstümlicher Literatur zu sein scheint, vielmehr ein entwicklungsgeschichtlich sehr bemerkenswertes Kunsterzeugnis ist, dem eine über das lokalgeschichtliche Interesse weit hinausgehende kulturgeschichtliche Bedeutung zufällt. Denn durch ihn läßt sich die verschollene Etappenstraße nachweisen, auf der jene Bilder hin und her wandern konnten, die durch die Druckkunst befreit und mobil gemacht, eine neue Epoche des Austausches künstlerischer Kultur zwischen Norden und Süden anbahnten und vermittelten.

Solche Probleme der Forschung also führten Warburg zur Bibliophilie. Oder sollen wir vielmehr sagen: Die ursprüngliche Passion des Sammlers empfing aus solcher wissenschaftlichen Problematik Richtung und Gehalt? Es gibt eine Seite in Warburgs Sammeltätigkeit, die noch dem tieferdringenden Blick unverständlich, fragwürdig und launenhaft erscheinen mag. Das ist das Archiv von Alltagsdokumenten der Gegenwart, Zeitungen vor allem, das er anlegte und mit leidenschaftlicher Konsequenz vervollständigte. Wenn wir freilich diese Dokumente näher betrachten, so zeigt sich, daß sie nichts anderes sind als jene Raritäten und Kuriositäten der Vergangenheit, die der Historiker Warburg zum Range wertvollster Quellen erhoben hatte. Es gilt als eine Berufsregel der Geschichtsforschung, die Gegenwart und ihr Werden aus dem Bereich der Arbeit auszuschließen, weil die allzupersönliche Nähe der Ereignisse, die Befangenheit des Forschers selbst, den “objektiven” Blick verwirren möchte. Aber wie für Warburg dieser gelassene Blick selbst immer wieder entbrannte in persönlichster Anteilnahme, wie das Fernste ihm zur drohenden Nähe, zur Spannung wurde, die seine eigene Existenz erschütterte, so konnte er umgekehrt an den Bewegungen nicht vorübergehen, die in der Gegenwart, halbvollendet, die alten Kulturwerte fortleiteten. Und wenn auch hier seine besondere Art des kulturpsychologischen Ahnungsvermögens sich nicht in voreilige Lösungen, dogmatische Schicksalssprüche und gefährliche Weissagungen verstrickte, ergriff er doch die Probleme, war es ihm doch darum zu tun, für ihre Lösung, ja schon die bloße Einsicht in ihre Bedeutung das geeignete Material bereitzustellen. In diesem Sinne sammelte er die Literatur, die heutzutage bildhaft zuordnendes Denken in Magie und Astrologie weiterdenkt, sammelte er die Spätlinge antiker Formensprache, Briefmarke und Reklamebild, sammelte photographische Aufnahmen bedeutsamer Ereignisse, Ausschnitte aus der Presse, und endlich jene Zeitungsbilderbogen, die – jüngste Nachkommen des Einblattdrucks – in ihrer wunderlichen Zusammenstellung Charakter und Tendenz der Gegenwart offenbaren. Überall lebten hier, zum Teil in völliger “Inflation”, die antiken Ausdruckswerte und Formen weiter, überall traten die alten nord-südlichen Spannungen wieder zutage. Der moderne “Arbeitsmensch” kämpfte um seine geistige Freiheit. Die Hydra mythisch-magischen Denkens erhob sich gegen ihn und durchbrach den mühsam errungenen “Denkraum der Besonnenheit”. In diesem Kampf kämpfte Warburg mit. Kulturpsychologie und Kulturpolitik verbanden sich ihm hier auf einer letzten Stufe. Die Probleme der Forschung wurden zum Rüstzeug für die Auseinandersetzungen und Entscheidungen der Gegenwart.

Aber nicht davon sollte die Rede sein. Es galt nur, noch einmal von einer neuen Seite die eigentümliche Perspektive aufzuweisen, die Warburg der wissenschaftlichen Bibliophilie erschlossen hat.

Es möge zuletzt erlaubt sein, mit ein paar andeutenden Worten auf jene Schöpfung Warburgs hinzuweisen, die er gleichsam als Monument und Zeugnis seiner Wertung des Buches vor uns hingestellt hat: seine kulturwissenschaftliche Bibliothek. Der Forscher und der Sammler haben in gleichem Maße zu ihrem Aufbau beigetragen. Ihr Programm – oft und leidenschaftlich formuliert – ist ebensosehr, das Buch in den Dienst der geistesgeschichtlichen, speziell der bildgeschichtlichen Forschung zu stellen, wie eben diese Forschung an das Buch, den Text, das “Wort” heranzuführen, sie mit ihm bis in die entlegensten Gebiete bibliophilen Wissens vertraut zu machen. Der ganze Aufbau der Bibliothek ist derart geeignet, den Arbeitenden an die Bücher heranzuzwingen. Problemkreise Warburgscher Provenienz, keine “sachlichen” Gruppen im Sinne einer hergebrachten Wissenschaftslehre (die doch nur das Resultat einer veralteten Problemstellung wäre), geben das Prinzip der Anordnung. Zugleich sind damit Wachsen und Entwicklung der Bibliothek, aber freilich auch ihre notwendigen Grenzen, gekennzeichnet. Eine “Problembibliothek” kann und will nicht die Universalität einer allgemeinen Bibliothek beanspruchen. Es gilt, sie in sich zu vervollständigen. Und so hat Warburg denn im Rahmen seiner Probleme, aber weit über die augenblicklichen Lösungen und ihren Bedarf hinaus gesammelt, gesammelt, um es zu wiederholen, vielleicht aus einer ursprünglichen Passion, aber mit der immer erneuten, immer schärfer gefaßten Begründung und Absicht, sich selbst, seinen Mitarbeitern und allen künftigen Forschern im “Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte”, allen verantwortungsbewußten Verwaltern mediterranen Erbgutes ausreichendes Material und Rüstzeug zur Verfügung zu stellen.

English abstract

The name of Fritz Rougemont (1904-1941) is known to Warburg scholars because he appears as a co-editor, together with Gertrud Bing, of the edition of Aby Warburg’s Gesamellte Schriften, published in Leipzig by the publisher Teubner in 1932. Since 1927 Rougemont had actively collaborated with the Kulturwissenschaft Bibliothek Warburg, but later his biographical events, and in particular his adhesion to Nazism, caused a definitive damnatio memoriae of his figure, also erasing the traces of his scholarly activity almost completely. We present here an important contribution of his published in 1930 in the first volume of “Imprimatur”, the Annuary of the “Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg”. The essay, hitherto neglected in the extensive literature of Warburgian studies, is presented in a new edition of the original German version of 1930, and in the first English and Italian translations. Rougemont’s contribution represents a primary testimony of the specifically scientific meaning of Warburg’s “bibliophily”, which originally illuminates his unprecedented method of study, the analysis of the mechanisms of the Classical tradition, and the innovative trajectory of his research with respect to his contemporary, and dominant, disciplinary dictates.

keywords | Warburg; Bibliophilia; Hamburg KBW.

questo numero di Engramma è a invito: la revisione dei saggi è stata affidata al comitato editoriale e all’international advisory board della rivista

doi: https://doi.org/10.25432/1826-901X/2024.211.0001