Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg (1930)
Fritz Saxl
Fritz Saxl, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg, in Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele, hrsg. von L. Brauer, A. Mendelssohn Bartholdy und A.Meyer, Band II, Hamburg 1930, 355-358.
Die Bibliothek Warburg ist sowohl Bibliothek wie Forschungsinstitut. Sie dient der Bearbeitung eines Problems, und zwar so, daß sie erstens durch Auswahl, Sammlung und Anordnung der Bücher und Bildmaterials das Problem, das sie fördern will, darstellt und zweitens die Resultate der Forschungen, die sich auf dieses Problem beziehen, veröffentlicht.
Das Problem ist das vom Nachleben der Antike. Die europäischen wie die vorderasiatischen Kulturen der christlichen Zeit haben das Erbe an geprägten Formen, das die Antike hinterließ, übernommen, und zwar auf allen Gebieten, sei es in der Kunst, sei es in den Naturwissenschaften oder auf dem Gebiet der religiösen und literarischen Formen. Unsere Aufgabe ist einmal, die geschichtlichen Tatsachen der Überlieferung zu untersuchen, die Wanderstraßen der Tradition aufzuzeigen, und zwar so allseitig als möglich, dann aber aus solcher Erkenntnis allgemeine Schlüsse auf die Funktion des sozialen Gedächtnisses der Menschheit zu ziehen: Welcher Art sind die von der Antike Formen, daß sie nachleben? Warum kommt es in bestimmten Zeiten zu der Erscheinung einer “Renaissance” der Antike, während andere Epochen, denen dasselbe Bildungserbe eignet, es nicht zu ihrem lebendigen Besitz machen?
Solche Betrachtungsweise der nachklassischen Perioden führt einerseits an das zentrale Problem der Kulturgeschichte des Mittelmeerbeckens und des westlichen Europas heran, andererseits an das allgemeine geschichtsphilosophische Problem der Prägung von gesteigerten und daher nachwirkungsfähigen Ausdrucksformen durch die klassische Antike sowie des zeitweiligen Auftauchens und Wiederverschwindens dieser Formen im Mittelalter und Neuzeit bis zu unseren Tagen. Eine Bibliothek, die sämtliche Bücher zur Bearbeitung dieses Problems besäße, müßte den Umfang des British Museums haben. Denn fast jedes Werk eines mittelalterlichen Autors, eines Juristen des 19. Jahrhunderts oder naturwissenschaftlichen Schriftstellers der Renaissance läßt sich nutzvoll daraufhin betrachten, welche antiken Elemente darin verarbeitet sind und wie deren Verarbeitung erfolgt. Immer wird solche Untersuchung gleiches Licht auf die Wege der klassischen Tradition wie auf das Neue werfen, zu dessen Erhellung überlieferte Formeln verwendet werden.
Aber nicht alle Epochen werden sich dieser Betrachtungsweise als gleich ergiebig erweisen, da das von ihr in den Blickpunkt gerückte Problem für einige von ihnen ein zentrales Problem darstellt, für andere ein bloß peripheres. Schon daher kann es die Aufgabe der Bibliothek Warburg nicht sein, mit den universellen Bibliotheken in der Vollständigkeit der Bücherbestände zu wetteifern. Die Philosophie der Hochscholastik muß in ihr wesentlich schlechter vertreten sein als die des Florentiner Platonismus der Frührenaissance, die Geschichte der Entstehung der christlichen Theologie aus dem späten Heidentum besser als die der Zeit Gregorius des Grossen usw.
Muß gemäß dieser Proportion, die durch das Problem selbst vorgezeichnet ist, das Streben nach überall gleichmäßiger Vollständigkeit der Gebiete von vornherein aufgegeben werden, so tritt dafür die Reichhaltigkeit der Problemstellung auf jedem einzelnen Gebiet ein. Um ein Beispiel zu geben: Der Forscher, der über Bildungsgeschichte des Mittelalters arbeitet, findet hier als Abteilungen neben den üblichen – Geschichte der Universitäten und Schulen – auch die “Geschichte der Bildungsstoffe und –formen”: Diese umfaßt ebenso Geschichte der antiken Götterlehre im Mittelalter – im allgemeinen und im speziellen (etwa “Nachleben der Ovidianischen Metamorphosen”) – Geschichte der Satire, des Dialoges, des Briefes, wie auch die des Konversationslexikons, von der spätantiken Enzyklopädie des Isidorus bis zu der des Vincenz Von Beauvais.
Die Bibliothek Warburg ist also in gewissem Sinne mehr als Problemsammlung, denn als Bücherreservoir für die Erforschung des Nachlebens der Antike angelegt, und dieser Charakter soll ihr in Zukunft gewahrt bleiben, wenn auch die gleichmäßige Fortsetzung der Sammeltätigkeit durch die Jahrzehnte hindurch notwendig zu steter Verbreiterung der Bestände führt.
*
Auch insofern soll die Bibliothek keinen gleichmäßigen Charakter haben, als in ihr nicht nur einzelne Epochen stärker berücksichtigt sind als andere, sondern auch darin, daß in ihr das bildhafte Element immer einen besonderen Platz einnimmt. Dies ergibt sich aus dem spezifischen Charakter ihrer Problemstellung. Wer das Nachleben von der Antike geprägter Formeln verfolgt, wird hierfür naturnot wendig in erster Linie auf die Formeln der bildenden Künste gewiesen. Die Gestalten der Mänade, des Apollon, eines Triumphbogens, des Laokoon usw., kommen dem heutigen Menschen wohl zuerst in den Sinn, spricht man vom Nachleben antiker Form im Gedächtnis der nachantiken Menschheit. Warburgs eigene Forschungen gingen daher auch vom Bildhaften aus, und zwar von der Malerei jener Epoche, der das Wiedererwachen antiker Formen das charakteristische Gepräge gegeben hat, von der Malerei der Florentiner Renaissance. Wie aber Warburg selbst durch das Studium der Florentiner Kulturgeschichte auf die astrologischen Bildquellen als einen der wichtigsten Träger des antiken Erbgutes geführt wurde, so sammelt auch die Bibliothek die Bild und Textdokumente der Astrologie als Material für das Studium der Wandlung antiker Mythologeme. Dadurch erfährt der Begriff der Bildgeschichte eine Erweiterung, indem das über seinen künstlerischen Gehalt hinaus zur religiös und wissenschaftsgeschichtlichen Quelle wird.
Das notwendige Korrelat zu der Sammlung der Bücher bildet daher die Sammlung der Photographien. Diese umfaßt:
1. Allgemeines Material, das nach ähnlichen Kategorien geordnet ist, wie die Büchersammlung, z. B. “Antike im Festwesen der Renaissance und des Barock”, “Darstellung der Sibyllen”, “Illustrationen zum Ovid in der gedruckten Buchkunst” und dgl. Diese Sammlung erstrebt ebenfalls nicht Vollständigkeit.
2. Eine Sammlung von Photographien sämtlicher mythologischer und astrologischer Darstellungen aus den Handschriften des Mittelalters. Diese Abteilung Der Bibliothek ist vor mehr als 15 Jahren in Verbindung mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaft begonnen worden und umfaßt bereit den Besitz der meisten großen europäischen Bibliotheken, Rom, Wien, London Paris usw. In wenigen Jahren wird es möglich sein, hier jede Darstellung eines antiken Mythologems oder einer zum Sterndämon gewordenen antiken Gottheit aus den mittelalterlichen Handschriften in öffentlichem Besitz in Photographie zu finden.
Diese in Büchern und Bildern gesammelten Materialien der Forschung verarbeitet zugänglich zu machen und zu weiterer Forschung anzuregen, dienen die Veröffentlichungen der Bibliothek. Sie zerfallen in zwei Reihen, Vorträge und Studien, die seit 1922 erscheinen. Seit 1921 werden in der Bibliothek von Gelehrten verschiedener Disziplinen während der Universitätssemester allmonatlich Vorträge gehalten, die entweder während eines Jahres ein Gesamtproblem behandeln, z. B. das Problem der Himmelreise der Seele oder einzelne Probleme aus dem Gesamtkreis. Die Vorträge erscheinen jährlich in einem Band gesammelt, zumeist in erweiterter Form, mit wissenschaftlichem Apparat und reichem Abbildungsmaterial versehen.
Neben dieser Serie besteht die der Studien, die größere Arbeiten umfaßt. Bisher erschienen:
E. Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, Leipzig 1922.
E. Panofsky, F. Saxl, Dürers “Melencolia I”. Eine quellen und typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig 1923.
E. Norden, Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee, Leipzig 1924.
H. Liebeschutz, Fulgentius Metaforalis. Ein Beitrag zur Geschichte der antiken Mythologie im Mittelalter, Leipzig 1926.
E. Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunstgeschichte, Leipzig 1924.
E. Cassirer, Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, Leipzig 1925.
R. Reitzenstein, H.H. Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus, Leipzig 1926.
F. Saxl, Antike Götter in der Spätrenaissance. Ein Freskenzyklus und ein „Discorso“ des Giacopo Zucchi, Leipzig 1927.
R. Schmidt-Degener, Rembrandt und der holländische Barock, Leipzig 1928.
E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig 1928.
P. Lehmann, Pseudo-antike Literatur des Mittelalters, Leipzig 1927.
P.E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien und Texte zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des Karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit, Leipzig 1929.
H. Liebeschutz, Das allegorische Weltbild der heiligen Hildegard von Bingen, Leipzig 1930.
E. Panofsky, Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig 1930.
In den nächsten Jahren werden sowohl Publikationen größerer unedierter Texte erscheinen, so die des kosmologischen Hauptwerkes des 13. Jahrhunderts, des liber introductorius des Michael Scotus, wie eine Reihe von Abhandlungen über bildungsgeschichtliche, religiös und kunstgeschichtliche Themen. Außerdem gibt die Bibliothek Warburg in den nächsten Jahren den umfangreichen Nachlaß von Professor Warburg heraus, der die wissenschaftliche Grundlage ihrer Tätigkeit bildet. Durch diese Vortrags– und Publikationsreihen versucht die Bibliothek, die Fühlung mit der Gelehrtenwelt Deutschlands und Außerdeutschlands zu gewinnen und so reichere Hilfe für ihre Aufgaben zu finden. Um jüngere Mitarbeiter zu fördern und heranzuziehen, ihnen die Möglichkeit zu Reisen, Herbeischaffung von Photographien Material usw. zu erleichtern, stehen ihr außerdem kleinere Stipendien zur Verfügung. Die Bibliothek umfaßt etwa 60 000 Bände und 25000 Photographien, hat ein eigenes Haus mit Lesesaal für etwa 25 Leser, der zugleich als Vortragssaal für 200 Hörer dient. Sie verfügt über ein gut eingerichtetes photographisches Atelier und eigene Buchbinderei. Ihr Lesesaal ist täglich von 9–2 und 4–9 Uhr geöffnet.
*
Die Bibliothek ist das Werk von Professor Warburg, der vor mehr als 30 Jahren mit ihrer Aufstellung begonnen hat. Warburg ging dabei von dem Gedanken aus, daß in Deutschland ein Institut, welches — ohne Rücksicht auf die Wissenschafts Grenzen — das Material zur Geistesgeschichte der nachklassischen Zeit unter einem einheitlichen historischen Gesichtspunkt sammelte, fehlt und vom Staat auch nicht geschaffen würde, da dieser in erster Linie die Einzelinstitute förderte. Dieses Institut zu schaffen, betrachtete er als seine Aufgabe. Er selbst hat einmal “den seelischen Ort, an dem sich innerhalb der forschenden Welt die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg befindet”, mit folgenden Worten präzisiert:
Sie bedeutet in dem noch ungeschriebenen Handbuch der Selbsterziehung des Menschengeschlechts ein Kapitel, das den Titel haben könnte: Von der mythisch fürchtenden zur wissenschaftlich-errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem Kosmos gegenüber.
Die methodische Eigenart der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg würde dabei nach zwei Richtungen hin zutage treten:
1. dadurch, daß dies Kapitel illustriert ist, d. h. daß dieser Pendelgang zwischen mythischer und wissenschaftlicher Auffassung im Spiegel der künstlerischen Gestaltung – vom Fetisch bis zum Drama – durch etwa drei Jahrtausende hin durch systematisch historisch verfolgt und in einer ausgewählten Reihe von Reproduktionen wiedergegeben wird.
2. dadurch, daß diese seelische Pendelschwingung realgeographisch als Mittelmeer-becken-Vorgang aufgefaßt wird, indem die betrachteten Ausdruckswerte in Sprache, Bildwerk oder Drama auf ihre zentrale oder periphere Bezogenheit zu jenen schöpferischen Kraftfeldern, die wir Babylon, Athen, Alexandrien, Jerusalem, Rom nennen, untersucht, Einblick gewähren in das Urprägewerk europäischer Mentalität.
Die Bibliothek spiegelt in allem Warburgs universellen Geist, das “Problemgebäude” ist in allen seinen Stockwerken und Gemächern von ihm errichtet. Aufgabe der Zukunft ist es, dieses Gebäude nicht nur zu erhalten, sondern dauernd zu bereichern und auszubauen.
English abstract
Fritz Saxl’s article Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg was published in Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation un Ziele, edited by L. Brauer, A. Mendelssohn Bartholdy und A. Meyer, (Band II, Hamburg 1930, 355-358).
keywords | Fritz Saxl; Aby Warburg; Warburg Institute of Cultural Sciences.
Per citare questo articolo / To cite this article: F. Saxl, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg (1930), “La Rivista di Engramma” n. 198, gennaio 2023, pp. 63-69 | PDF of the article