"La Rivista di Engramma (open access)" ISSN 1826-901X

225 | giugno 2025

97888948401

Was können die Musen Hesiod lehren?

Die Wahrheit und ihre Feinde in der Theogonie

Mauro Tulli

English abstract

Diese Arbeit geht auf einen Vortrag zurück, der am 29. Januar 2025 an der Universität Heidelberg gehalten wurde.
Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Jonas Grethlein für seine vorzügliche Gastfreundschaft
und die anregende Diskussion in den lebendingen Räumen des Marstallhofs.

§ I. Modelle
§ II. Polare Reibung
§ III. Lüge
§ IV. Fiktion
§ V. Vergrößerung

Hesiod in der Theogonie: die Wahrheit und ihre Feinde. Das Thema konzentriert sich auf die Szene der Dichterweihe im Proömium, an deren Spitze der erste Hymnus auf die Musen mit seinen stark innovativen Elementen hervorsticht. Gerade weil dieser Hymnus so innovativ gestaltet ist, bietet er der Forschung eine Reihe von Knotenpunkten, die größtenteils von einer Abkehr von der Tradition zeugen. Unter diesen ist besonders die zeitliche Verschiebung im Verb hervorzuheben: Es wechselt vom Präsens, das die Kontinuität der Ausübung der aretai der Musen zeigt, zum Präteritum, das dem Bericht der persönlichen Erfahrung entspricht (Loney 2018). Doch der Bericht der persönlichen Erfahrung ist nichts anderes als die Erzählung der Dichterweihe – eine revolutionäre Auflösung der Schatten über den Ursprung poetischen Wissens. Solche Schatten ruft bereits Homer mit dem Proömium im 1. Buch der Ilias (1-7), mit dem Proömium im 1. Buch der Odyssee (1-10), sowie nicht zuletzt mit dem Proömium zum Schiffskatalog im 2. Buch der Ilias (484-493) hervor (De Sanctis 2018, 35-44).


Die Erzählung der Dichterweihe enthält eine Rede der Musen, die als Ergebnis einer Offenbarung in der Form der direkten μίμησις entwickelt ist (22-29).

αἵ νύ ποθ’ Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν,
ἄρνας ποιμαίνονθ᾽ Ἑλικῶνος ὕπο ζαθέοιο.
τόνδε δέ με πρώτιστα θεαὶ πρὸς μῦθον ἔειπον,
Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο·
“ποιμένες ἄγραυλοι, κάκ’ ἐλέγχεα, γαστέρες οἶον,
ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα,
ἴδμεν δ’ εὖτ᾽ ἐθέλωμεν ἀληθέα γηρύσασθαι”.
ὣς ἔφασαν κοῦραι μεγάλου Διὸς ἀρτιέπειαι.

Die Musen lehrten Hesiod harmonische Verse, als er die Schafe unter dem göttlichen Helikon hütete. Sie begannen, mir diese Worte auszudrücken, die olympischen Musen, Töchter des Zeus Aegisträger: „Bauernhirten, üble Rasse, nur Bauch, wir können viele falsche Dinge sagen, die wie echte Dinge erscheinen, aber, wenn wir wollen, können wir sofort die Wahrheit verkünden“. So sprachen die Töchter des großen Zeus mit flüssiger Zunge.
[Falls nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser].

Zur Übersetzung: Durch die Formulierungen „viele falsche Dinge sagen, die wie echte Dinge erscheinen“ und mit „sofort die Wahrheit verkünden“ bleibt die Unterscheidung zwischen ἐτύμοισιν ὁμοῖα und ἀληθέα gewahrt. Tilman Krischer (1965) hat erläutert, dass der erste Begriff auf „das Echte“, „die Wirklichkeit“, oder auch auf „die Tat“, insbesondere in der Folge „in der Tat“, verweist, während der zweite die Wahrheit als unvermitteltes, sofortiges Resultat einer Empfindung zeigt – „was ohne Hindernis aufgenommen wird“, eher als „das Unverborgene“, die alte und klassische Interpretation.

Das Rätsel der Musen, „viele falsche Dinge sagen, die wie echte Dinge erscheinen“ oder „sofort die Wahrheit verkünden“, hat im Laufe der Zeit eine lebhafte und komplexe Debatte ausgelöst, die radikale Fragen der Poetik in der frühgriechischen Phase berührt. Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über die Ergebnisse zu bieten und die kritische Debatte weiter anzuregen, indem ein Zweifel geweckt wird, den Hesiods Text unweigerlich aufwirft.

I. Modelle

Formal und inhaltlich werden für die Rede der Musen in der kritischen Literatur zwei Modelle in der Odyssee erkannt, die eine paradigmatische Funktion erfüllen (Neitzel 1975, 1-19).

Das erste ist die Rede der Sirenen – der Gesang, bei dem der Protagonist am Mastbaum gebunden ist, im 12. Buch (186-191):

οὐ γάρ πώ τις τῇδε παρήλασε νηῒ μελαίνῃ,
πρίν γ᾽ ἡμέων μελίγηρυν ἀπὸ στομάτων ὄπ᾽ ἀκοῦσαι,
ἀλλ᾽ ὅ γε τερψάμενος νεῖται καὶ πλείονα εἰδώς.
ἴδμεν γάρ τοι πάνθ’, ὅσ᾽ ἐνὶ Τροίῃ εὐρείῃ
Ἀργεῖοι Τρῶές τε θεῶν ἰότητι μόγησαν,
ἴδμεν δ’ ὅσσα γένηται ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ.

Noch nie ist hier jemand mit einem schwarzen Schiff vorbeigekommen, ohne die süße Honigstimme von unseren Mündern vernommen zu haben: wenn er dann fortgeht, hat er Freude genossen und mehr erfahren. Wir wissen alles, was in der weiten Ebene von Troja die Argiver und die Helden von Troja auf Geheiß der Götter erlitten haben, wir wissen alles, was auf der Erde geschieht, die die Völker nährt.

Das zweite ist Homers Kommentar – ein scharfer Blitz – zur Rede, die Odysseus im 19. Buch (203-204) mit der Maske des Etones, des Prinzen von Kreta, hält:

ἴσκε ψεύδεα πολλὰ λέγων ἐτύμοισιν ὁμοῖα·
τῆς δ’ ἄρ᾽ ἀκουούσης ῥέε δάκρυα, τήκετο δὲ χρώς.

Viele falsche Dinge, die er sprach, gab er als echte aus. Beim Hören liefen Penelope Tränen und ihr Gesicht zerfloss.

Zur Übersetzung: Mit „viele falsche Dinge, die er sprach, gab er als echte Dinge aus“ kann dem Wert von ἴσκε angemessen Rechnung getragen werden. Meistens wird ἴσκε als Verb für die Lüge verstanden, und zwar auf der trügerischen Basis einer Interpretation, die bereits in den Scholien dokumentiert ist und sich aus dem allgemeinen Sinne der Passage ergibt. Doch die Wurzel ist nicht mit „falsche Dinge sagen“ vereinbar, einem Konzept, das ja bereits durch ψεύδεα πολλά ausgedrückt wird. Vielmehr zeigt sie eine geschickte Annäherung an die echten Dinge (Mader 1991).

Zwei Modelle, also – sowohl in der Form als auch im Inhalt. Ohne Zweifel in der Form: Die Rede der Sirenen mit der Anapher zu Beginn des Hexameters, ἴδμεν … ἴδμεν, bei Hesiod ἴδμεν … ἴδμεν, Homers Kommentar zur Rede des Odysseus, mit ψεύδεα πολλά und ἐτύμοισιν ὁμοῖα, bei Hesiod ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα.

Und was den Inhalt betrifft? Sicherlich greift die Rede der Musen auf Homers Kommentar zur Rede des Odysseus zurück. Die grundsätzliche Unterscheidung kehrt identisch wieder: viele falsche Dinge oder die Wahrheit. Aber auf welches Feld deutet die Rede der Sirenen mit dem Zusatz „alles, was auf der Erde geschieht, die die Völker nährt“ hin, wenn sie mit ihren Worten „die Ereignisse, durch die die Argiver und die Helden von Troja litten“ die Handlung der Ilias zeigt? Auf die Handlung der Odyssee selbst? Der Boden der Interpretation ist hier fragil, eine handfeste Stütze fehlt, denn die Sequenz „alles, was auf der Erde geschieht, die die Völker nährt“ ist zu vage. Es fehlt ein Anhaltspunkt, um auch hier die grundsätzliche Unterscheidung zu postulieren: viele falsche Dinge oder die Wahrheit. Vermutlich ist Hesiods Bezug auf die Rede der Sirenen, was den Inhalt betrifft, einfacher zu verstehen: Der Ausdruck „alles, was auf der Erde geschieht, die die Völker nährt“ deutet lediglich auf ein „wir wissen alles“ hin. Dies erlaubt einen Blick auf das Gesicht der Musen hinter dem Gesicht der Sirenen, auf das Gesicht der Musen schlechthin. Dieses Gesicht tritt im Proömium zum Verzeichnis der Schiffe im 2. Buch der Ilias (484-493) hervor: ὑμεῖς γὰρ θεαί ἐστε πάρεστέ τε ἴστέ τε πάντα, „Ihr Göttinnen, die immer gegenwärtig seid und das Wissen über alles besitzt“ (Doherty 1995).

Zwei Modelle für Form und Inhalt, also. Es ist jedoch möglich, sich mit Gregory Nagy (2009) an eine weitere Stelle aus der Odyssee zu erinnern (Buongiovanni 2011). Der Kontakt mit der Rede der Musen in der Szene von Hesiods Dichterweihe betrifft auch hier sowohl die Form als auch den Inhalt. Dabei handelt es sich um die Rede, die der schlaue Schweinehüter Eumaios im 14. Buch (121-125) an den geheimnisvollen Gast richtet:

τὸν δ’ ἠμείβετ’ ἔπειτα συβώτης, ὄρχαμος ἀνδρῶν·
“ὦ γέρον, οὔ τις κεῖνον ἀνὴρ ἀλαλήμενος ἐλθὼν 
ἀγγέλλων πείσειε γυναῖκά τε καὶ φίλον υἱόν, 
ἀλλ᾽ ἄλλως, κομιδῆς κεχρημένοι, ἄνδρες ἀλῆται 
ψεύδοντ᾽ οὐδ᾽ ἐθέλουσιν ἀληθέα μυθήσασθαι.

Als Antwort sagte der Schweinehüter, Herr der Männer: „Alter, niemand, der nach langer Wanderung hier ankommt und Nachrichten von ihm gibt, kann die Frau oder den Sohn überzeugen. Die Vagabunden verbreiten auf verschiedene Art falsche Nachrichten und haben nicht die Absicht, sofort die Wahrheit zu sagen: sie brauchen nur Hilfe“.

Der formale Zusammenhang von ἐθέλωμεν ἀληθέα γηρύσασθαι bei Hesiod mit ἐθέλουσιν ἀληθέα μυθήσασθαι bei Homer deutet auf den inhaltlichen Zusammenhang hin, nämlich auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen „vielen falschen Dingen“ und der Wahrheit: ἀληθέα bei Hesiod und Homer, ψεύδεα πολλά bei Hesiod, wobei diese letzte Wendung eine Entsprechung in Homers „falsche Dinge sagen“ findet. Hier wird das Verb ἴσκε nicht verwendet.

Drei Modelle also, sowohl in der Form als auch im Inhalt: Der erste Hymnus in Hesiods Theogonie verwendet diese Modelle, wenn auch ohne sie direkt zu zitieren, mit kunstvoller Anspielung. In einer wichtigen Arbeit hat Giorgio Pasquali ([1942] 1994) die geschickte Technik erläutert, die im antiken Dialog zwischen Autoren die Präsenz der im visuellen oder akustischen Gedächtnis verankerten Modelle regelt, und festgehalten, dass die Beziehung zur Form, die mit kunstvoller Anspielung gesteuert wird, von sich aus die Beziehung zum Inhalt impliziert (Bonanno 2018, 17-32).

Doch gerade in Bezug auf den Inhalt, welchen Weg schlägt die Rede der Musen in der Theogonie für den Gesang vor?

II. Polare Reibung

Es ist unvermeidlich, festzustellen, dass Hesiod sich dafür entscheidet, die Wahrheit zu sagen. In der Theogonie findet der Empfänger die Wahrheit, und zwar aus Hesiods Perspektive, wobei der Ausdruck τοῦ δ’ εὖτ’ ἐθέλωμεν den natürlichen Wunsch verrät, die Wahrheit zu verkünden – durch das Geschenk der Musen, die Inspiration.

Ohne Zweifel eine stolze Behauptung. Deutet die grundsätzliche Unterscheidung in der Szene der Dichterweihe auf eine polare Reibung hin? Entweder falsche Dinge oder Wahrheit, aut aut? Jennifer Strauss Clay (2003, 49-80) schließt einen subtilen Plan von Hesiod nicht aus, der den Empfänger auf das Gewirr zwischen ψεύδεα πολλά und ἀληθέα in der Theogonie aufmerksam macht, auf ein Panorama mit Flecken in zwei Farben, falsche Dinge und Wahrheit (Pucci 1977, 8-44). Es ist also zugleich ein Schritt in den Schatten der ψεύδεα πολλά und ein Schritt ins Licht der ἀληθέα. Es ist jedoch schwierig, diese zu erkennen, wenn die Erzählung der ψεύδεα πολλά die Maske der Wahrheit trägt, ἐτύμοισιν ὁμοῖα, wie es die Szene der Dichterweihe vorschlägt. Eine extreme Aufgabe für den Empfänger, der ermahnt, ja herausgefordert wird, sich auf das gewagteste und reifste literarische Unterfangen einzulassen – den Text von Hesiod neu zu organisieren und ἀληθέα, die Wahrheit, ohne konkrete Leitspuren, unter den ψεύδεα πολλά zu entdecken.

Graziano Arrighetti (1987, 13-138) hat jedoch erläutert, dass die Rede der Musen, gerade im Hinblick auf die Beziehung zur Odyssee, die sowohl in der Form als auch im Inhalt mit kunstvoller Anspielung entwickelt wird, eine Ablehnung von Homer impliziert – eine Ablehnung, die der Wahl eines festen Meilensteins für die Paideia, für die didaktische Gattung, entgegensteht. Diese findet ihren Code in der Theogonie und noch mehr in den Erga – den Code der ἀληθέα, der Wahrheit –, der im Gegensatz zu ψεύδεα πολλά steht (Fränkel 19623, 104-146). Drei homerische Modelle werden hier für eine Ablehnung von Homer wiederaufgegriffen. In der Odyssee, mit Homers Kommentar zur Rede des Odysseus, glänzt das Bewusstsein gegen die Rede, die viele falsche Dinge zeigt. Die Ablehnung von Homer ist also die Wahl, die für die Theogonie einen Code erzeugt, nämlich den Code der Wahrheit, der dem Empfänger nicht viele falsche Dinge, sondern die Wahrheit bietet. Rufen wir uns die Worte der Musen noch einmal ins Gedächtnis: „Aber wenn wir wollen, können wir sofort die Wahrheit verkünden“ – δ’ εὖτ’ ἐθέλωμεν, „wenn wir wollen“. Es ist nicht schwierig, in Hesiods Profil den bevorzugten Dichter der Musen zu erkennen. Mit der Theogonie ist dieses „wenn wir wollen“ der Musen ein positives „wir wollen“ – die Musen geben das Wissen weiter, durch welches Hesiods Gesang durchdrungen ist (Vergados 2020, 205-219).

Die Wahl einer Rede im Gegensatz zu Homer, die polare Reibung mit den ψεύδεα πολλά macht es unvermeidlich, in der Theogonie ein festes Gebiet für die Realität, für die objektiven Dinge zu erkennen. In diesem Sinne findet Hesiods Wahl ihre fruchtbare Basis im Profil des Phemios, das Telemachos im 1. Buch der Odyssee (345-349) umreißt, um Penelopes Weinen zu beruhigen.

τὴν δ᾽αὖ Τηλέμαχος πεπνυμένος ἀντίον ηὔδα·
“μῆτερ ἐμή, τί τ᾽ἄρα φθονέεις ἐρίηρον ἀοιδὸν
τέρπειν ὅππῃ οἱ νόος ὄρνυται; οὔ νύ τ᾽ἀοιδοὶ
αἴτιοι, ἀλλά ποθι Ζεὺς αἴτιος, ὅς τε δίδωσιν
ἀνδράσιν ἀλφηστῇσιν ὅπως ἐθέλῃσιν ἑκάστῳ.”

Der schlaue Telemachos sprach zu ihr: „Mutter, warum willst du nicht, dass der berühmte Dichter uns nach dem Impuls seines Geistes erfreut? Die Schuld liegt nicht bei den Aöden: Verantwortlich ist Zeus, wenn überhaupt, der das Schicksal den Menschen, den Brotessern, zuteilt, jedem so, wie er es für angemessen hält“.

Ein festes Gebiet für die Realität und die objektiven Dinge ist übrigens auch der Wunsch, der bereits im Proömium zum Schiffskatalog im 2. Buch der Ilias (484-493) auftritt. Es handelt sich um das Wissen, das von der Autopsie, also von der konkreten Rezeption, abhängt (Latacz 20102, 140-144). Im Profil des Phemios, das im 1. Buch der Odyssee durch Telemachos angedeutet wird, lässt sich leicht die Reflexion wiedererkennen, die Odysseus selbst im 8. Buch der Odyssee (487-491) im Rahmen des ἔπαινος des Demodokos entwickelt, der besser als alle anderen sei:

Δημόδοκ᾽, ἔξοχα δή σε βροτῶν αἰνίζομ᾽ἁπάντων·
ἢ σέ γε Μοῦσ᾽ἐδίδαξε, Διὸς πάϊς, ἢ σέ γ᾽Ἀπόλλων·
λίην γὰρ κατὰ κόσμον Ἀχαιῶν οἶτον ἀείδεις,
ὅσσ᾽ ἕρξαν τ᾽ ἔπαθόν τε καὶ ὅσσ᾽ ἐμόγησαν Ἀχαιοί,
ὥς τέ που ἢ αὐτὸς παρεὼν ἢ ἄλλου ἀκούσας.

Demodokos, ich lobe dich mehr als alle Sterblichen. War es die Muse, Tochter des Zeus, die dich unterwiesen hat, oder war es Apollo: Du kannst die Schicksale der Achaier ordentlich wiedergeben, was sie taten, und wie viele Schmerzen die Achaier litten, als ob du persönlich dabei gewesen wärest oder es von einem anderen gehört hättest.

Hier nimmt das radikale Bedürfnis nach Wahrheit die gleichen Merkmale wie in der Historiographie an, mit der entscheidenden Notwendigkeit der Autopsie, „als ob du persönlich dabei gewesen wärest“. Dies geschieht im Anschluss an ὑμεῖς γὰρ θεαί ἐστε πάρεστέ τε ἴστέ τε πάντα, „ihr Göttinnen, die immer gegenwärtig seid und das Wissen über alles besitzt“ im Proömium zum Schiffskatalog im 2. Buch der Ilias (484-493), und mit der Frage nach der konkreten Rezeption, „oder es von einem anderen gehört hättest“, also mit Frage nach der Quelle, die par excellence bei Thukydides im 1. Buch, gleich nach der Archäologie (22,1-2), auftaucht (Hornblower 1991, 59-62).

Doch wie sind die ψεύδεα πολλά, die vielen falschen Dinge, zu verstehen? Welche Feinde der Wahrheit zeigt die Rede der Musen im Proömium der Theogonie

III. Lüge

Das erste Gebiet bzw. Konzept, das im Hinblick auf eine polare Reibung zu ἀληθέα zu berücksichtigen ist, ist natürlich die Lüge, die bewusst, wenn nicht sogar mit der Absicht, dem Empfänger die Wahrheit zu verschleiern, begangen wird. Ohne Zweifel empfehlen die letzten beiden Modelle des Hesiod – Homers Kommentar zur Rede des Odysseus und die Rede des klugen Schweinehüters Eumaios – gerade diese Richtung. Im 19. Buch der Odyssee erreicht der Protagonist mit der Tarnung der eigenen Identität durch die Maske des Etones, des Prinzen von Kreta, den Gipfel der Lüge. Es handelt sich dabei um eine Tarnung, die der Empfänger sieht und erkennt – aufgrund der Form der Erzählung, der Fokussierung und nicht zuletzt des Pakts, der ihn mit Homer verbindet (de Jong 2004, 29-40). Die Tarnung der Identität ist hier in der Gegenwart von Penelope, der Ehefrau, platziert – ein Paradox, das Homers Kommentar mit einem verfremdenden „game of mirrors“ entlarvt, denn Homer kommentiert hier das narrative Ergebnis, das er selbst erzielt hat. Nicht weit davon entfernt ist das dritte von Hesiods Modellen. Im 14. Buch der Odyssee bietet die Rede des Eumaios fast eine Verteidigung der Lüge, mildert die Schuld auf der Ebene des ἦθος und bereitet den Empfänger auf die Ausbreitung der Lüge vor, mit der Tarnung der Identität im zweiten Teil der Odyssee. Die Lüge des Bettlers entspricht dem quälenden Bedürfnis nach Essen oder dem unbedingten Drang, die Herrschaft über Ithaka zurückzuerobern, den der Protagonist verspürt. Übrigens findet die Interpretation von ψεύδεα πολλά als Feld der Lüge in einem Fragment von Solon (29 W2) eine Parallele: Häufig äußert sich das Lied der Sänger im Code der Lüge (Nardi 2025, 66-71). Ohne Zweifel ist dies eine Verurteilung, von der der Tadel des Xenophanes (14-16 W2) sicher abhängt: πάντα θεοῖσ’ ἀνέθηκαν … / ὅσσα παρ’ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν. Es ist ein Tadel, der sowohl auf Homers als auch auf Hesiods Worte mit Wucht abzielt (Tor 2022).

In diesem Sinne ist die in der Szene der Dichterweihe mit der Rede der Musen zum Ausdruck gebrachte Ablehnung weniger eine Ablehnung von Homer als vielmehr eine Ablehnung der Lüge mit der Tarnung der Identität, die sich durch die Erzählung am Ende der Odyssee zieht – von der Landung auf Ithaka im 13. Buch bis zum Massaker der Freier im 22. Buch. Es handelt sich um eine Ablehnung, die sich auf die letzten beiden Modelle von Hesiod bezieht und gerade die Eigenschaften betrifft, die der Protagonist der Odyssee an den Tag legt – die Eigenschaften, die ihm Homer zuschreibt.

Aber warum zeigt die Rede der Musen mehr als viele falsche Dinge – nämlich viele falsche Dinge, die wie echte Dinge erscheinen? Warum betrifft die Ablehnung nicht einfach ψεύδεα πολλά? Anders gefragt: Warum finden ἐτύμοισιν ὁμοῖα neben ψεύδεα πολλά noch Raum?

IV. Fiktion

Natürlich ist dies dem zweiten von Hesiods Modellen, Homers Kommentar zur Rede des Odysseus, geschuldet. Doch will Homers Kommentar nicht vor dem allgemeinen ἦθος warnen, das der Protagonist der Odyssee aufweist? Unweigerlich kehrt unser Gedanke von Ithaka, von der Lüge mit der Tarnung der Identität, die die Erzählung am Ende der Odyssee durchzieht, zurück in den schattigen Palast des Alkinoos auf Scheria. Dort fesselt der Protagonist mit seinem Charme und der Erzählung über die Zyklopen und Laistrygonen, über Kirke und die Seelen der toten Helden (Segal 1992). Im Mittelpunkt steht nun die Erzählung, die ein sehr weites Segment in der Mitte der Odyssee einnimmt – vom 9. Buch bis zur Landung bei Kalypso im 12. Buch – eine Erzählung, die den plötzlichen, beeindruckenden Zauber hervorruft, der gleich zu Beginn des 13. Buches (1-2) zu beobachten ist:

Ὣς ἔφαθ᾽, οἱ δ᾽ ἄρα πάντες ἀκὴν ἐγένοντο σιωπῇ,
κηληθμῷ δ᾽ἔσχοντο κατὰ μέγαρα σκιόεντα.

So sprach er und alle blieben reglos, in Stille zurück, gefesselt von einem Zauber in der schattigen Halle.

Woher stammt dieser Zauber? Die Forschung schließt nicht aus, dass sich hier bereits der Keim der Poetik des εἰκὸς λόγος, also der Poetik der Erzählung, erkennen lässt. Diese steht zwar nach wie vor im Gegensatz zu ἀληθέα, doch wird die polare Reibung dadurch abgemildert, dass es sich hier um die Fiktion handelt, die faszinieren und täuschen kann. Ewen Bowie ([1993] 2022) hat einen Code auf Hesiod zurückverfolgt, der später als Thema von Platons Reflexion im 3. Buch der Politeia (414 b-e) für den Mythos der γηγενεῖς oder auch im Timaios (26 e-27 a) für die Erzählung der Politeia auftaucht (Regali 2012, 99-147). Nicht zu vergessen sind hierbei auch Aristoteles’ Worte im 9. Kapitel der Poetik (1451 a 36-1452 a 11) (Rösler 1980). Jonas Grethlein (2021, 1-32) hat darüber hinaus erläutert, dass die Poetik der Fiktion bereits in einem Fragment des Gorgias (23 DK) deutlich erkennbar ist. Der εἰκὸς λόγος als ἀπάτη regiert außerdem das Drama und nährt die tragische Gattung (Schollmeyer 2021, 27-40).

Das Plausible, also. In diesem Sinne ist die in der Szene der Investitur mit der Rede der Musen zum Ausdruck kommende Ablehnung weniger als eine Ablehnung von Homer, sondern vielmehr als eine Ablehnung des εἰκὸς λόγος anzusehen, der die Erzählung des νόστος im schattigen Palast von Scheria durchzieht – vom 9. Buch bis zur Landung bei Kalypso im 12. Buch. Es handelt sich um eine Ablehnung, die immer noch die Eigenschaften des Protagonisten der Odyssee betrifft, jedoch weniger aufgrund der Tarnung seiner Identität als vielmehr aufgrund der Erzählung des νόστος, die fasziniert und täuscht (Walsh 1984, 3-21).

Doch ist diese Rückprojektion legitim? Und hat die Theorie bzw. die Poetik der Fiktion mit der Rede der Sirenen, mit dem Gesang also, bei dem Odysseus am Mastbaum gebunden ist, im 12. Buch (186-191), zu tun? Die Rede der Sirenen ist zweifellos faszinierend, sie täuscht jedoch nicht (Iriarte 1993). Eher als Aristoteles’, Platons oder Gorgias’ Seiten steht hier im Fokus der Untersuchung die Rede der Musen in der Szene der Dichterweihe bei Hesiod und ihr fruchtbares Vorbild bei Homer. Ist die Erzählung des νόστος, die der Protagonist der Odyssee im schattigen Palast von Scheria bietet und die von Lüge bestimmt ist, dann weit entfernt von der Tarnung der Identität?

V. Vergrößerung

Die Ablehnung, die in der Szene der Dichterweihe mit der Rede der Musen auftaucht, betrifft also entweder die Erzählung am Ende der Odyssee, von der Landung auf Ithaka im 13. Buch bis zum Massaker der Freier im 22. Buch, wenn sie als Ablehnung der Lüge mit der Tarnung der Identität gemeint ist – oder sie betrifft wiederum die Erzählung im Mittelteil der Odyssee, also die Beschreibung des νόστος im 9. Buch bis zur Landung bei Kalypso im 12. Buch, wenn sie als Ablehnung des εἰκὸς λόγος zu verstehen ist. In jedem Fall zielt die Verurteilung nicht auf das gesamte Werk des Homer – die komplexe Architektur von Ilias und Odyssee – ab.

In diesem Panorama ist es nützlich, sich zu vergegenwärtigen, dass in der Szene der Dichterweihe mit der Rede der Musen ἀληθέα γηρύσασθαι, der Ausdruck im Gegensatz zu ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα, nicht unbedingt eine Eigenschöpfung des Hesiod ist. Ohne Zweifel findet sich eine Parallele dazu bei Homer im 6. Buch der Ilias (381-389), nämlich in der Rede, mit der die Magd in der Wohnung des Hektor dessen Sorgen um Andromache beschwichtigt, ἀληθέα μυθήσασθαι, oder im 17. Buch der Odyssee (6-15), in der Rede, mit der Telemachos vor dem klugen Schweinehüter Eumaios stolz daran erinnert, dass er es gewohnt ist, die Wahrheit zu sagen, ἀληθέα μυθήσασθαι. Die Erzählung des Homer, die sich durch außergewöhnliche Tiefe auszeichnet, schließt die grundsätzliche Notwendigkeit, die Wahrheit zu sagen, nicht aus. Gerade im Vergleich zur Lüge, zur Tarnung der Identität oder zum εἰκὸς λόγος, tritt die Wahrheit mit Nachdruck hervor.

Versteckt die Rede der Musen jedoch eine Ablehnung der Lüge mit der Tarnung der Identität, oder eine Ablehnung des εἰκὸς λόγος? Sicherlich deutet die Reflexion über Homer in der 7. Nemea des Pindar (20-30) nicht auf eine Ablehnung der Lüge mit der Tarnung der Identität hin, und auch nicht auf eine Ablehnung des εἰκὸς λόγος. Vielmehr eröffnet sie ein drittes Feld, das ohne Zweifel der näheren Betrachtung würdig ist.

    ἐγὼ δὲ πλέον᾽ ἔλπομαι
λόγον Ὀδυσσέος ἢ πάθαν 
    διὰ τὸν ἁδυεπῆ γενέσθ’ Ὅμηρον·
ἐπεὶ ψεύδεσί οἱ ποτανᾷ <τε> μαχανᾷ
σεμνὸν ἔπεστί τι· σοφία 
    δὲ κλέπτει παράγοισα μύθοις. τυφλὸν δ’ ἔχει
ἦτορ ὅμιλος ἀνδρῶν ὁ πλεῖστος. εἰ γὰρ ἦν
ἓ τὰν ἀλάθειαν ἰδέμεν, οὔ κεν ὅπλων χολωθείς
ὁ καρτερὸς Αἴας ἔπαξε διὰ φρενῶν
λευρὸν ξίφος· ὃν κράτιστον Ἀχιλέος ἄτερ μάχᾳ
ξανθῷ Μενέλᾳ δάμαρτα κομίσαι θοαῖς
    ἂν ναυσὶ πόρευσαν εὐθυπνόου Ζεφύροιο πομπαί
πρὸς Ἴλου πόλιν.

Ich glaube jedoch, dass der Ruhm des Odysseus durch die süßen Worte Homers mehr gewachsen ist als sein Leiden, denn in den Verzerrungen der Wirklichkeit, mit dem Fluge der Technik, besitzt er etwas Erhabenes: Die Kunst täuscht, indem sie mit ihren Mythen verführt. Die große Menge der Menschen ist blind. Wenn es möglich gewesen wäre, die Wahrheit zu erfahren, hätte der gewaltige Ajax nicht, zornig wegen der Waffen, das große Schwert in seine Brust gestoßen. Damit er dem blonden Menelaos die Frau zurückbringen könnte, trieben ihn die Hauche von Zephyr, der gerade auf die Stadt Troja bläst, auf der schnellen Flotte dahin: Er war nach Achilles der Stärkste im Kampf.

Es ist klar, dass ein Parallelismus zur Szene der Dichterweihe in der Theogonie besteht, wenn nicht sogar ein Fall von mit kunstvoller Anspielung gesteuertem literarischem Gedächtnis (Arrighetti 2006, 3-118). Hier beobachten wir keine Ablehnung von Homer, sondern das Bewusstsein eines wunderbaren Flugs mit der Technik, eines gefährlichen Flugs, da er mit dem Charme der Erzählung, mit majestätischem Atem, σεμνὸν ἔπεστί τι, fasziniert und täuscht. Bei ψεύδεα handelt es sich um einen Begriff – und dazu um einen Vergleich, πλέονα –, der genau zu Beginn die entscheidende Divergenz zwischen dem Ruhm und dem Leiden, zwischen dem Ruhm und der Wahrheit bezeichnet: Der Ruhm steigert sich, er ist höher als die ἀληθέα – der Protagonist der Odyssee geht wegen der Erzählung über die Grenzen der Wahrheit hinaus (Puelma 1989). Dies ist das Ergebnis der Technik: Ajax ist zwar auf der Ebene der Wahrheit besser, aber wegen der Erzählung im Ruhm unterlegen. Die Technik des Erhabenen, die den Ruhm erzeugt und nährt, verursacht den Tod des Ajax und beeinflusst mit einem makellosen „game of mirrors“ die Struktur der Erzählung, die von Homer wiedererweckt wird (Cannatà 2020, 442-447).

Ein Begriff, ein Vergleich – πλέονα: Pindars Reflexion isoliert in Homers Technik den Mechanismus der Vergrößerung, der αὔξησις. Mit der Beziehung zwischen ψεύδεα und πλέονα wird die Interpretation der Rede der Musen in der Theogonie im Sinne der Vergrößerung möglich, der Rede, die jedenfalls Homers Erzählung betrifft. Wenn es keine Ablehnung von Homer ist, dann prangert das Bewusstsein in der 7. Nemea jedenfalls eine Abkehr von der Wahrheit an, die Homers Erzählung für die Rekonstruktion der Wahrheit als wenig zuverlässig erscheinen lässt. Es geht nicht um die Lüge, nicht um das Plausible, um die Theorie bzw. die Poetik des εἰκὸς λόγος, sondern um den gefährlichen Gebrauch der Vergrößerung. Ganz natürlich ist die Frage: kommt die Ablehnung von Homer, die in der Rede der Musen in der Theogonie auftaucht, von hier?

Ohne Zweifel geht Thukydides in diese Richtung, speziell im 1. Buch (11, 2), in der Archäologie, mit dem Kommentar zum Trojanischen Krieg, der der Erzählung, die diesen überliefert, unterlegen ist (Hornblower 2004, 287-306).

ἀλλὰ δι᾽ ἀχρηματίαν τά τε πρὸ τούτων ἀσθενῆ ἦν καὶ αὐτά γε δὴ ταῦτα, ὀνομαστότατα τῶν πρὶν γενόμενα, δηλοῦται τοῖς ἔργοις ὑποδεέστερα ὄντα τῆς φήμης καὶ τοῦ νῦν περὶ αὐτῶν διὰ τοὺς ποιητὰς λόγου κατεσχηκότος.

Im Gegenteil, aufgrund der Knappheit der Ressourcen waren nicht nur die früheren Taten von geringer Bedeutung, sondern auch diese Taten selbst, die berühmtesten unter denjenigen, die zuvor durchgeführt wurden, erwiesen sich als geringer als der daraus resultierende Ruhm und die bis heute durch das Werk der Dichter überlebende Tradition.

Der Trojanische Krieg ist dem Konflikt zwischen Sparta und Athen unterlegen. Thukydides verfolgt in der Archäologie das Ziel, die These zu verfechten, dass der Konflikt zwischen Sparta und Athen, also das Thema, das seine Erzählung beherrscht, in keiner anderen Zeit seinesgleichen findet. Thukydides stützt sich dabei auf die Notwendigkeit, die Erde in der Nähe von Troja zu bewirtschaften, gerade wegen der Knappheit an Ressourcen, die Homer beschreibt. Der Ruhm geht über den konkreten Einfluss der ἀληθέα hinaus, er ist für den Trojanischen Krieg wegen Homers Gesang, wegen seiner Technik, mit dem majestätischen Atem der Ilias, höher, als er sein sollte. Doch wird die Reflexion des Thukydides im 1. Buch (20, 3-21, 2) sofort nach der Archäologie noch expliziter:

οὕτως ἀταλαίπωρος τοῖς πολλοῖς ἡ ζήτησις τῆς ἀληθείας, καὶ ἐπὶ τὰ ἑτοῖμα μᾶλλον τρέπονται. ἐκ δὲ τῶν εἰρημένων τεκμηρίων ὅμως τοιαῦτα ἄν τις νομίζων μάλιστα ἃ διῆλθον οὐχ ἁμαρτάνοι, καὶ οὔτε ὡς ποιηταὶ ὑμνήκασι περὶ αὐτῶν ἐπὶ τὸ μεῖζον κοσμοῦντες μᾶλλον πιστεύων, οὔτε ὡς λογογράφοι ξυνέθεσαν ἐπὶ τὸ προσαγωγότερον τῇ ἀκροάσει ἢ ἀληθέστερον, ὄντα ἀνεξέλεγκτα καὶ τὰ πολλὰ ὑπὸ χρόνου αὐτῶν ἀπίστως ἐπὶ τὸ μυθῶδες ἐκνενικηκότα, ηὑρῆσθαι δὲ ἡγησάμενος ἐκ τῶν ἐπιφανεστάτων σημείων ὡς παλαιὰ εἶναι ἀποχρώντως.

So begeben sich viele, ohne Anstrengung, auf die Suche nach der Wahrheit und bevorzugen es, der bereits fertigen Erzählung zu folgen. Doch auf der Basis der von mir vorgelegten Beweise wird niemand irren, der glaubt, dass die Ereignisse, die ich überprüfte, im Wesentlichen solche sind, wie sie nicht die Dichter sie zum Gegenstand ihres Hymnus gemacht haben, indem sie sie verschönerten, um sie zu vergrößern, noch wie die Logographen sie darstellten, eher um Freude am Hören zu erregen, als um die Wahrheit zu dokumentieren. Es handelt sich um Ereignisse, die einer strengen Kontrolle kaum standhalten und oft wegen der verstrichenen Zeit ohne das Plausible ins Fabulöse gefallen sind. Niemand wird also irren, der glaubt, dass die Forschung hier auf völlig soliden Beweisen beruht und ein ausreichendes Niveau erreicht, sofern wir das Alter der Ereignisse nicht vergessen.

Daher zeigt die Erzählung des Thukydides die Wahrheit, nicht die des Homer, die eher ein lyrischer Hymnus ist, der als Feld des Lobes aus der Vergrößerung über die Wahrheit hinaus geht, ἐπὶ τὸ μεῖζον, und wie die Erzählung der Logographen eher den Genuss am Hören als die Rekonstruktion der Wahrheit hegt. Ein lyrischer Hymnus, der das Fabulöse nährt, τὸ μυθῶδες – darin liegt die Neubildung des Thukydides (Flory 1990).

In diesem Sinne ist die Ablehnung, die in der Szene der Dichterweihe mit der Rede der Musen auftaucht, eine unbedingte Ablehnung von Homer, eine Ablehnung sowohl der Ilias als auch der Odyssee, einer Erzählung, die den Code der Vergrößerung par excellence findet und keinen Spiegel der Wahrheit bietet.

Als Frucht dieser Vergrößerung prangert Aristoteles im 15. Kapitel der Poetik (1454 a 16-b 18) das Profil des Achill in der Ilias an, der durch den Zorn zum Opfer, von Homer jedoch als Feld des Lobes glorifiziert wird (Bauer 1992). Ohne Zweifel durchzieht die Ablehnung der Vergrößerung die Reflexion des Thukydides in der Archäologie, dessen Ziel die Rekonstruktion der Wahrheit ist. Das Bewusstsein der Vergrößerung deutet bereits in der 7. Nemea des Pindar auf ein Problem bzw. eine Grenze bei Homer hin, der mit poetischer Vergrößerung den Ruhm nährt, durch den der Protagonist der Odyssee wächst, aber auch den Ruhm, der Ajax zu Fall bringt.

Bibliographische Hinweise
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English abstract

The enigmatic declaration of the Muses in the investiture scene that opens Hesiod’s Theogony has long been a well-trodden terrain for scholars’ intent on tracing the outlines of early Greek poetics. Hesiod, however – through deliberate allusion – polemically distances himself from Homer and rejects Homer’s narrative practice. The crux of the debate is whether that practice rests on falsehood, fiction, or amplification. The third option, amplification, is often neglected by commentators, yet it finds clear support in Pindar and Thucydides. This paper seeks to set out the current state of the question along these three lines and to stimulate further discussion by foregrounding the doubts that Hesiod quite deliberately leaves unresolved.

keywords | Hesiod; Investiture; Lies; Fiction; Amplification; Tale; Homer.

La Redazione di Engramma è grata ai colleghi – amici e studiosi – che, seguendo la procedura peer review a doppio cieco, hanno sottoposto a lettura, revisione e giudizio questo saggio
(v. Albo dei referee di Engramma)

Per citare questo articolo / To cite this article: Mauro Tulli, Was können die Musen Hesiod lehren? Die Wahrheit und ihre Feinde in der Theogonie, “La Rivista di Engramma” n. 225, giugno 2025.

doi: https://doi.org/10.25432/1826-901X/2025.225.0002