A Presentation of: Gertrud Bing im Warburg-Cassirer-Kreis, Wallstein, Göttingen 2024
herausgegeben von Dorothee Gelhard, Thomas Roide
English abstract
Inhalt
Vorwort des Herausgebers, 7
Herzlich wilkommen, “Fraülein Bing”! Geleitwort von Birgit Recki, 9
Dorothee Gelhard: Gertrud Bing im Warburg-Cassirer-Kreis, 12
Eintritt in die Bibliothek Warburg: Begegnung mit Fritz Saxl, 17
Die Jahre mit Aby Warburg und der Aufbau der KBW (1921-1933), 25
”Hermia schwimmt!”, 38
Die Londoner Jahre: Aufbau des Warburg Institutes (1933-1964), 45
Die Warburg-Biografie, 51
Die Dissertation, 62
Dank, 78
Anmerkungen, 79
Thomas Roider: Editorischer Bericht, 113
Textzeugen, 113
Textprobleme und Textgestaltung, 115
Benutzung der Edition, 122
Anmerkungen, 124
Gertrud Bing: “Der Begriff des Notwendigen bei Lessing. Ein Beitrag zum geistesgeschichtlichen Problem Leibniz-Lessing” (1921), 131
Leibniz, 133
Lessings Aesthetik, 147
Geschichts- und Religionsphilosophie, 164
Emilia Galotti, 203
Nathan, 219
Verzeichnis der benutzten Literatur, 226
Editorische Anmerkungen, 232
Gertrud Bing: “Auszug aus der Inaugural-Dissertation”, 309
Editorische Anmerkungen, 318
Weitere Dokumente, 320
Dissertationsgutachten, 320
Berichte zur mündlichen Prüfung, 324
Editorische Anmerkungen, 326
Anhang, 332
Verzeichnis der Schriften Gertrud Bings, 332
Stammtafel (Auszug), 335
Gertrud Bing – Lebensdaten im Überblick, 336
Literaturverzeichnis und Quellen, 337
Abkürzungen, 337
Dokumente aus Archiven, 337
Internetquellen, 337
Literatur, 337
Bildnachweis, 342
Pesonenregister, 343
On the 4th of June 1921, when Gertrud Bing defended her doctoral thesis, she was among the first female students awarded a PhD from the newly founded (1919) University of Hamburg. She was also one of the first students of philosopher Ernst Cassirer, who had just become chair of the philosophy department there. University regulations back then, much as they do now, stipulated the submission of obligatory copies in printed form; due to the difficult economic situation brought about by inflation, the Faculty of Philosophy was, however, permitted to waive this claim on the student’s request. Receiving his PhD one year later in 1922, Edgar Wind, for example, who was another student of Cassirer’s, made such a request. Whether Bing did, too, could not be ascertained. At any rate, her thesis had been available in Germany until now only as a typescript copy on faded and brittle sheets of flimsy paper containing several mostly handwritten corrections. In this Volume her thesis is published for the first time. An earlier phase of this work was published in English by Dorothee Gelhard in Engramma 191, Gertrud Bing’s Scientific Beginnings. The 1921 doctoral thesis: The Concept of the Necessary in Lessing.
Vorwort
Dorothee Gelhard
aus: D. Gelhard, T. Roide (hrsg. von), Gertrud Bing im Warburg-Cassirer-Kreis, Göttingen 2024, 12-61.
Gertrud Bing, die eigentlich Gertrude hieß, wurde am 7. Juni 1892 in Hamburg geboren und starb am 3. Juli 1964 in London. Sie war das dritte Kind des jüdischen Kaufmanns Moritz Bing und seiner Frau Emma, geb. Jonas (Wendland, Handbuch, 59). Nach dem Abitur am Heinrich-Hertz-Realgymnasium schloss sie 1912 das Lehrerinnenexamen am Kloster St. Johannis in Hamburg ab. Bis 1915 war sie als Lehrerin an der Vorschule in Alt-Rahlstedt tätig. Ein Jahr später nahm sie das Studium der Philosophie, Psychologie und der Germanistik in München auf, das sie aufgrund des Ersten Weltkrieges, den sie als Vertretungslehrerin an der Knabenschule in Eimsbüttel erlebte, hatte unterbrechen müssen. Nach dem Krieg setzte sie ihr Studium in Hamburg bei Ernst Cassirer fort, der sie an die Bibliothek Warburg in der Heilwigstraße vermittelte (Fritz Saxl berichtete Warburg darüber in einem Brief vom 27. Januar 1922 [WIA GC]; siehe auch Fritz Saxl an Max Warburg, 17. Dezember 1921 [WIA GC]).
Als Bing am 4. Juni 1921 ihre Dissertationsschrift verteidigte, gehörte sie zu den ersten Doktorandinnen, die an der 1919 gegründeten Universität Hamburg promoviert wurden. Das Protokoll der Promotionsprüfung dokumentiert, dass Bing die Promotion im Hauptfach “Deutsche Literaturgeschichte” bei Robert Petsch ablegte und in den Nebenfächern Psychologie bei Wilhelm Stern und Philosophie bei Ernst Cassirer, der auch der Zweitgutachter ihrer Arbeit gewesen ist. Sie war damit zugleich die erste Schülerin, die bei Ernst Cassirer ihre Disputation hatte. Gertrud Bings Promotionsakte, die in den 1990er-Jahren von Rainer Nicolaysen und Eckart Krause gefunden und dem Staatsarchiv Hamburg zur Aufbewahrung übergeben wurde, ist vollständig erhalten. In der Akte finden sich, neben den Protokollen der mündlichen Prüfung der Prüfer Stern, Petsch und Cassirer, auch die beiden Gutachten zu Bings Dissertationsschrift, ihr handschriftlicher und maschinengeschriebener Lebenslauf, der Antrag auf Zulassung zur Promotion vom 3. Mai 1921, eine Kurzfassung der Arbeit für die Disputation und die Promotionsurkunde vom 18. Oktober 1922, die belegt, dass sie die Promotion mit “sehr gut” bestanden hat, und außerdem eine Empfangsbescheinigung der Universitätskasse vom 20. April 1922 über die erste Rate von 20 Mark der damals fälligen Promotionsgebühren von insgesamt 200 Mark. Am 17. Juni 1921 bestätigt Bing der Universität Hamburg, die Arbeit sowie ihre Abschlusszeugnisse zurückerhalten zu haben. Eine Mitteilung der Philosophischen Fakultät vom 18. Oktober 1922 enthält schließlich die Bitte an die Herren Lütcke und Wulff um Drucklegung des Doktorbriefes in sieben Exemplaren. Bings Arbeit selbst blieb unpubliziert und lag bis jetzt nur als Typoskript auf dünnem Durchschlagpapier mit handschriftlichen Ergänzungen beziehungsweise Streichungen vor. Das originale Handexemplar aus dem Nachlass Gertrud Bings befindet sich heute im Warburg Institute in London. Die vorhandenen Durchschläge der Arbeit unterscheiden sich durch handschriftlich eingefügte Korrekturen.
Die Arbeit war allerdings ausleihbar. So weist beispielsweise ein für die Einsichtnahme eingefügtes Ausleihformular der Staatsbibliothek Hamburg als zweiten Eintrag von 1926 Erwin Panofsky als Leser aus, der zusammen mit Aby Warburg und Fritz Saxl an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) die neue Kunstwissenschaft lehrte. Zuletzt wurde Bings Arbeit in Hamburg 2003 eingesehen, davor vereinzelt in den 1970er-, 80er- und 90er-Jahren. Viel Beachtung fand ihre Dissertation bisher somit nicht. Das verwundert ein wenig, ist Gertrud Bing doch nach der mit “sehr lobenswert” benoteten Promotion durch Ernst Cassirer und den Germanisten Robert Petsch sofort von Cassirer als Mitarbeiterin für die Bibliothek Warburg empfohlen worden. Saxl hat sie daraufhin offenbar aus eigener Entscheidung eingestellt, wie aus einem Schreiben an Max Warburg hervorgeht: “Mit Hilfe von Fräulein Dr. Bing, von deren Einstellung ich zufällig Professor Warburg noch nicht berichtete hatte, werden nun die gesamten Zettel nochmals bibliographisch überprüft […]” (Fritz Saxl an Max Warburg, 17. Dezember 1921 [WIA GC]; 1921, siehe dazu auch Fritz Saxl an Aby Warburg, 27. Januar 1922 [WIA GC]. Zusammen mit Fritz Saxl und Edgar Wind wird Bing 1933 maßgeblich an der Rettung der Bibliothek Warburg beteiligt sein.
Es ist zudem in einem ganz erheblichen Maße auch Bings Verdienst, dass aus der KBW in Hamburg das Warburg Institute in London wurde, das seit 1944 Teil der University of London ist. Bis zu seinem Tod 1948 war Fritz Saxl der Institutsdirektor. Ihm folgte Henri Frankfort nach, der das Institut die nächsten fünf Jahre von 1949 bis 1954 leitete. Erst nach dessen überraschend frühem Tod übernahm Bing schließlich selbst von 1955 bis 1959 die Leitung.
Über die Frau, die sich in so außergewöhnlicher Weise in den Dienst Warburgs und seiner Bibliothek stellte, der wir es in erheblichem Maße zu verdanken haben, dass die Sammlung gerettet, erhalten und fortgeführt wurde und die dafür gesorgt hat, dass das Warburg Institute in London bis heute ein international anerkanntes und angesehenes Forschungsinstitut geblieben ist, ist jedoch auffallend wenig bekannt. Sie, die anderen Forschern bei ihren Arbeiten stets mit Rat und Kritik unermüdlich zur Seite stand, hat selbst wenig publiziert, und wenn sie doch einmal etwas zur Veröffentlichung freigab, versuchte sie stets als Person zurückzutreten. Außer biografischen Publikationen zu Warburg und Saxl sind von ihr noch zwei Aufsätze in den “Warburg Journals” erschienen (Bing 1937-1938). Dass das jedoch nicht aus mangelndem Selbstbewusstsein geschah, sondern vielmehr einer gewissen Ethik der Darstellung geschuldet war, die sie sehr bewusst gewählt hat, wird unter anderem in einem Brief deutlich, den sie an den Romanisten Ernst Robert Curtius schrieb:
Ich habe Ihnen, lieber Herr Curtius, ja eigentlich noch immer einen Vortrag halten wollen “über die rechte Art, Warburg zu lesen”, denn ich war doch ein bisschen enttäuscht über die Tatsache, dass Sie offenbar in den vorliegenden Bänden der Gesammelten Schriften den sprechenden Warburg, so wie Sie ihn erinnern, nicht haben wiederfinden können. Ich glaube auch nach wie vor, dass im Grunde trotz seiner Art, prinzipielle und umfassende Dinge nicht auszusprechen, in den veröffentlichten Schriften alles Wesentliche drin steht und herauszulesen sein müßte, aber ich habe gerade im Gespräch mit Kaegi gemerkt, dass wir uns bei den künftigen Bänden vielleicht doch bemühen müssen, ihn etwas leichter verständlich zu machen. Ich habe mich ja damals auf den Standpunkt gestellt, nur ihn sprechen zu lassen und nichts zu kommentieren (Gertrud Bing an Ernst Curtius, 27. September 1934, in Wuttke 1989, 49).
Die geplante Biografie über Warburg konnte sie jedoch krankheitsbedingt nicht mehr schreiben, und ihre eigene philosophische Arbeit, die sie unter Cassirer begonnen hatte, setzte sie nicht mehr fort. Stattdessen widmete sie ab 1921 ihre gesamte Arbeitskraft dem Werk Warburgs und dem Nachleben seiner Ideen, so dass ihr Leben, das so eng mit ihm und seiner Bibliothek verbunden war, wie die Sammlung selbst in zwei Teile zerfällt: die Hamburger Jahre ‘mit’ Warburg und der Aufbau der KBW als öffentliche Wissenschaftseinrichtung (bei Warburgs Tod umfasste die Bibliothek 65.000 Bände) und die Londoner Jahre ‘im Geiste’ Warburgs, in denen aus der KBW schließlich das Warburg Institute am Woburn Square wurde. Unter dem Rektorat Bings war die Sammlung bereits auf über 140.000 Bände angewachsen (Bing 1958, 12). Gertrud Bing ist mit der Warburg Bibliothek aufs Engste verbunden. Ihre Spuren zeigen sich in der Systematik der Sammlung, die niemand so wie sie verinnerlicht hatte, aber auch in den von ihr erstellten Indices (Götz 1991, 301) zu Publikationen, die im Umkreis der KBW entstanden sind. So wandte sich Cassirer nach Erscheinen seiner Studie Individuum und Kosmos in einem Brief, den er an Warburg, Saxl und Bing schrieb, voll Dankbarkeit explizit an seine ehemalige Doktorandin:
Und was Sie, liebes Frl. Bing betrifft, so muß ich seit gestern den Spott meiner Frau über mich ergehen lassen, weil ich ständig in Ihrem Index – lese. Und diese Lektüre bereitet mir auch noch etwas anderes als eine bloß sachliche Freude und Befriedigung – ich spüre in ihr immer von neuem welches freundschaftliche Verständnis und wie viel persönliche Arbeit einen solchen Index allein zu schaffen verursacht hat. Zugleich enthält er die feinste und diskreteste Form der Kritik: denn man erfährt durch ihn nicht nur, was in dem Buch steht, sondern auch was eigentlich in ihm hätte stehen sollen, aber leider übergangen worden ist. Dies alles wollte ich Ihnen doch mit einem Worte sagen, noch ehe meine Frau und ich Ihnen unseren persönlichen Dank abstatten können (Ernst Cassirer an Aby Warburg, Fritz Saxl und Gertrud Bing, 21. September 1927, in Krois 2009, 100).
Eintritt in die Bibliothek Warburg: Begegnung mit Fritz Saxl
Als Gertrud Bing ihre Dissertation 1921 einreichte, befand sich Ernst Cassirer selbst erst kurze Zeit in Hamburg. Nach der Gründung der Universität im März 1919, an der sich neben Aby Warburg auch das Bankhaus Warburg unter der Leitung seines Bruders Max maßgeblich beteiligt hatte, war Cassirer am 18. Juni desselben Jahres auf den Lehrstuhl für Philosophie berufen worden und hatte dort seit dem Wintersemester 1919/20 seine Lehrtätigkeit aufgenommen. Warburg hielt sich in jenen Jahren im Sanatorium Ludwig Binswangers in Kreuzlingen auf. Er hatte für die Dauer seiner Abwesenheit eine Kommission beauftragt, die befugt war, Entscheidungen über die Zukunft der Bibliothek zu treffen. Die Familie beschloss, die Bibliothek nicht zu verkaufen, sondern berief im Winter 1919/20 Fritz Saxl an die Bibliothek Warburg (BW), der von 1913 bis zu seiner Einberufung 1914 bereits als “wissenschaftlicher Hilfsarbeiter” beschäftigt gewesen war und mit Warburg das große Interesse für Astrologie und Planetendarstellungen teilte.
Bing hat in ihren Erinnerungen Saxls erste Begegnung mit Warburg beschrieben, die den Grundstein für die spätere Beziehung der beiden Männer legte:
Warburg showed Saxl his Wanderkarte, a map of the routes along which the tradition had travelled; it charted the places from India to Northern Germany where evidence of the migration of pictures or descriptions of the star figures had been found, and included the dates, from the end of antiquity down to the early sixteenth century, to which the records referred. It was a historical geography of image-making which fascinated Saxl by its visual presentation of a vast problem conceived in minute detail. Here the history of “art” as he had known it was no longer an end in itself. He was also shown the library, which Warburg had built up with the single purpose of opening ways of inquiry into the questions of which he had become aware in the course of his work. Saxl realized that he was in the presence of one whose experience was far deeper and more exacting than his own, and his small efforts appeared very superficial to him. But when he said, “May I not leave all my material to you? – you can deal with it so much better than I”, Warburg gave him an answer which he did not forget: “One does not solve problems by giving them away”. Here was a hint of Warburg’s sense of personal dedication to his research, but also, Saxl felt, a promise “to share the burden which he imposed”. It was this attitude, as much as the common interest in astrology, that sealed the synastria between them (Bing 1957, 4).
Nach Kriegsende arbeitete Saxl im Heeresmuseum in Wien. Als er 1918 von Warburgs schwerer Erkrankung erfuhr, ließ er dessen Frau Mary umgehend wissen, dass er jederzeit nach Hamburg kommen könne, falls man seine Arbeit benötige. Ein Jahr später fragte Max Warburg offiziell bei ihm an, ob er bereit sei, als Mitarbeiter an die Bibliothek zu kommen (Hellwig 2019, 199).
Saxl sagte sofort zu und trat seine Stelle im April 1920 an. Zwar war verabredet worden, dass er alle Entscheidungen, Initiativen und Vorschläge mit Warburg absprechen sollte, doch ist die Umwandlung von der Privatbibliothek in ein öffentliches Forschungsinstitut im Wesentlichen sein Verdienst. Bing zufolge war Saxl zum ersten Mal dieser Gedanke gekommen, als er und Warburg im Frühling 1914 in Florenz vor Masaccios Fresko Der Zinsgroschen in der Brancacci-Kapelle in Santa Maria del Carmine standen (Bing 1957, 5) Allerdings hatte sich Warburg schon seit 1909 beim Hamburger Senat immer wieder für die Gründung eines Forschungsinstituts eingesetzt. Der Senat teilte Warburgs Sicht jedoch nicht, und so musste Saxl zehn Jahre später mehrfach aktiv werden, bis aus der Privatbibliothek eine öffentliche Einrichtung werden konnte.
Bing war also in einem sehr entscheidenden Augenblick zum Warburg-Kreis gestoßen. Ihre Aufgabe war nicht nur die Verwaltung eines Buchbestandes, sondern sie sollte insbesondere mithelfen, die BW an die Universität Hamburg anzubinden. Den gleichen Prozess haben Bing und Saxl ein Vierteljahrhundert später in London wiederholen müssen, wobei der zweite Versuch von Erfolg gekrönt war.
Karin Hellwig hat den mühsamen Weg und die verschiedenen Initiativen, die Saxl in den 1920er-Jahren ergriffen hat, um die Bibliothek in die Öffentlichkeit zu bringen, genau untersucht. Als Saxl nämlich 1920 kommissarisch die Leitung der BW übernahm, stellte er schnell fest, dass die Buchbestände bisher ausschließlich auf “die Bedürfnisse Warburgs zugeschnitten [waren], weshalb Standardwerke und Zeitschriften fehlten, die Forscher in einer öffentlichen wissenschaftlichen kunsthistorischen Bibliothek durchaus erwarten konnten” (Hellwig 2019, 200).
Saxl musste nicht nur den Buch- und Zeitschriftenbestand erweitern, er stand vor allem auch vor der Aufgabe, die Vorbereitung, Herstellung und wissenschaftliche Auswertung der Kataloge der Buchbestände, Handschriften und Fotografien vorzunehmen. Sein Vertrag sah außerdem verlegerische Aufgaben vor, wie etwa die Schriften Warburgs herauszubringen – das hat später Bing selbstständig übernommen – und auch noch seine eigene Forschungstätigkeit fortzusetzen sowie die Anbindung an die Universität voranzubringen. In der ersten Zeit seiner Anstellung in Hamburg fiel ihm zunächst die Aufgabe zu, Franz Boll – Warburgs langjährigem Freund und Gewährsmann in Fragen der “astrologica” – bei der Herausgabe der Warburg’schen Luther-Studie zu helfen. Mit Hilfe Bolls und Saxls konnte dieser letzte Beitrag Warburgs vor seiner Krankheit 1920 in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erscheinen (Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, 1920). Saxl brauchte somit in der Tat sachkundige und kompetente Unterstützung für all die vielfältigen Aufgaben, die er von Bing schließlich auch erhielt:
Sie hat später erzählt, wie hilflos sie sich zunächst vorkam, als ihr der junge Direktor Fritz Saxl einen Stoß Bücher über arabische Naturwissenschaft im Mittelalter zur Katalogisierung und chronologischen Einordnung auf den Tisch legte. Damals schienen diese Gebiete noch ferner von dem gewohnten Forschungskreis des Geisteswissenschaftlers abzuliegen als heute. Und doch wußte sie sich so schnell in diese neuartige Forschungsrichtung einzuarbeiten, in der es immer um die konkreten historischen Zusammenhänge der Überlieferungsgeschichte ging, dass die Welt der Bücher ihre eigene Welt wurde (Gombrich 1965, 8).
Nach ihrer Einstellung berichtet Saxl an Max Warburg:
So weit ich die Sache nach dem Bisherigen beurteilen kann, scheint sich Fräulein Bing zu bewähren. Sie ist vor allem fleißig, was für diese Riesenarbeit Hauptbedingung ist, und sie hat Verständnis für die in der Aufstellung der Bibliothek liegenden Gedanken, die klar hervortreten zu lassen, ja die erste und wichtigste Aufgabe des Katalogs sein wird (Fritz Saxl an Max Warburg, 17. Dezember 1921 [WIA GC]).
Bing war zunächst nicht festangestellt, sondern wurde nur für vier Stunden täglich in der Bibliothek beschäftigt (Fritz Saxl an Aby Warburg, 10. März 1922 [WIA GC]. Wann sie eine Festanstellung bekam, geht aus der Korrespondenz Saxls mit Warburg nicht hervor. Sie übernahm die Katalogisierungsarbeiten und war für die systematische Einordnung und Signierung der Bücher verantwortlich, die in ihrer Aufstellung bereits das Programm der KBW widerspiegeln sollten. “There existed a rule-of-thumb catalogue fit only to refresh the memory of those who already knew the books”, erinnerte sie sich (Bing 1957, 9). Es dauerte mehr als 30 Jahre, bis endgültig alle anfänglichen Katalogisierungsfehler beseitigt waren (Bing 1957, 9). Warburgs neue kulturwissenschaftliche Methode sollte nicht nur eine abstrakte Idee sein, sondern den Benutzern bereits durch die besondere Art der Bücheraufstellung Antworten geben sowie zu immer neuen Fragestellungen inspirieren. Wie anregend diese Aufstellung war, berichtet Toni Cassirer, die Ehefrau Ernsts:
Ich erinnere mich, wie Ernst nach dem ersten Besuch der Bibliothek in einer für ihn sehr ungewöhnlichen Erregung nach Hause kam und mir erzählte, dass diese Bibliothek etwas unerhört Einmaliges und Großartiges wäre, und Dr. Saxl, der sie ihm gezeigt hatte, ein äußerst merkwürdiger, origineller Mann zu sein schien, dass Ernst ihm aber nach der Führung durch die langen Bücherreihen gesagt habe, dass er nie wiederkommen würde, da er sonst ganz sicherlich in diesem Labyrinth verloren gehen würde. […] Die Entdeckung der Bibliothek Warburg glich der Entdeckung einer Fundgrube, in der Ernst einen Schatz nach dem anderen zu Tage förderte. Saxl war glücklich, dass er jemanden gefunden hatte, der die Fragestellung, auf der die ganze Sammlung aufgebaut war, sofort erfaßt hatte (Cassirer T. 2003, 126f.).
Die kulturwissenschaftliche Methode Warburgs wollte die “geschichtlichen Tatsachen der Überlieferung untersuchen, die Wanderstraßen der Tradition aufzeigen, und zwar so allseitig als möglich, dann aber aus solcher Erkenntnis allgemeine Schlüsse auf die Funktion des sozialen Gedächtnisses der Menschheit ziehen” (Michels 2006, 103). Warburg hatte deshalb Gegenstände des täglichen Bedarfs in seine Betrachtung einbezogen. Er analysierte nicht nur die großen literarischen Zeugnisse, sondern vor allem auch Privatdokumente:
Zu Warburgs Zeit hätte sich kein Kunsthistoriker für die Geschäftskontrakte der Medici interessiert, oder für das Testament eines ihrer Teilhaber, in dem von Kunst nichts vorkommt, oder für die Briefe ihrer Verehrer, die über schlechte Geschäfte klagen; derartiges wurde den Historikern der Nationalökonomie überlassen. Was die Gegenstände des Hausrats anbelangt, so gehörten sie nach damaliger Auffassung zum Kunstgewerbe, und ihr Bilderschmuck schien nach Stil und Inhalt zu weit entfernt von den Erzeugnissen der sogenannten ‘freien’ Kunst, als dass man sich gefragt hätte, wie Warburg es tat, ob nicht vielleicht in beiden Fällen die Wahl des Bildinhalts durch den Gebrauch mitbestimmt war (Bing 1958, 21).
Diese Methodologie spiegelte die Bibliotheksstruktur wider. Infolgedessen unterlag das Ordnungsprinzip der Bücher nicht dem gängigen Bibliotheksreglement, sondern einem durchdachten begrifflichen System. Den vier Magazingeschossen des Hauses waren vier große Themenbereiche zugeordnet, die ein grobes Klassifikationssystem bildeten: Das erste Geschoss war dem menschlichen Handeln, “Dromenon”, gewidmet, das zweite dem Wort, das dritte der Orientierung, das vierte dem Bild. “Sie repräsentieren Warburgs Vorstellung von der Entwicklung des menschlichen Geistes: vom reflexhaften Tun über die Ausbildung der Sprache und die Orientierungsversuche in Raum und Zeit zum symbolischen Handeln” (Michels 2006, 103). Nach dem gleichen Prinzip ist auch Cassirers philosophisches Hauptwerk Die Philosophie der symbolischen Formen aufgebaut, das in jenen Jahren im engen Austausch mit der Bibliothek Warburg entstanden ist. Warburgs Methodologie prägte aber nicht nur die einzelnen Magazingeschosse, sondern auch die Anordnung innerhalb der Regale. Die Bücher waren nicht alphabetisch, sondern nach inhaltlichen Kriterien geordnet: nach dem – oft zitierten – “Gesetz der guten Nachbarschaft”. Aus dieser eigenwilligen Struktur ergaben sich zwangsläufig immer wieder neue Zuordnungen und aufwendige Umstellungen, worüber die Aufzeichnungen des Tagebuchs der Bibliothek beredte Auskunft geben:
Um die Bücher überhaupt auffindbar zu machen, hatte man ein flexibles Signierungssystem mittels Farbstreifen entworfen. Es sollte die Beweglichkeit des Buches innerhalb verschiedener Kontexte ermöglichen, ohne dass man Gefahr lief, es für immer zu verstellen. Jedes Buch wurde mit drei Farben gekennzeichnet, mit der sogenannten Trikolore. Die erste Farbe unterschied die Wissenschaftsgebiete – Philosophie etwa wurde dunkelgrün, Kunstgeschichte weinrot, Naturwissenschaft gelb markiert. Die zweite Farbe bezeichnete den methodischen Stellenwert eines Buches: Handbuch, Quellentext oder historisches Werk. Die dritte Farbe schließlich betraf die Unterabteilungen: Hellenistische Mysterienreligion, Orientalisches Mittelalter, Italienische Renaissance. […] Das Buch muß reversibel bleiben. Warburg erreichte das mühsam durch ein kompliziertes Netz aus Karteien und Verweisen. […] Das Wandern der Bücher hatte zwar für die Angestellten beschwerliche Umräumaktionen zur Folge; es zeichnete aber unmittelbar die Denkbewegungen Warburgs nach (Michels 2006, 103f.).
Gertrud Bing übernahm nicht nur die komplizierten Katalogisierungsarbeiten, sondern beteiligte sich auch an der Drucklegung des Katalogs der Bibliothek und war für die bibliografische Überprüfung des Kataloges zuständig (Bericht über die Bibliothek Warburg für das Jahr 1922 [WIA V.2.3.2.2.3]; siehe auch Schäfer 2003, 186). Beides war unverzichtbar hinsichtlich der auch von der Familie gewünschten Umwandlung der BW in ein öffentliches Institut. Sehr bald schon war Bing für Saxl unentbehrlich geworden, wovon ein Brief Zeugnis gibt, den er schrieb, als sie sich zwecks neuer Buchankäufe in London aufhielt: “Sie sind doch die einzige menschliche Seele, die die Formel zur Deutung der mystischen bunten Zettel kennt. Es liegen 1000 Bücher für Sie bereit, die der Signierung harren” (Fritz Saxl am Gertrud Bing, 14. Juni 1924 [WIA GC]).
Als Bing und Saxl an der Institutionalisierung der Bibliothek arbeiteten, gab es noch kein Kunsthistorisches Seminar an der Universität Hamburg, weshalb das Kuratorium zunächst überlegte, die BW und das neuzugründende Kunsthistorische Seminar räumlich zusammenzulegen (als die KBW 1933 nach England umsiedelte, trafen Bing und Saxl auf die gleiche Situation. Erst in den 1950er-Jahren sollten die ersten kunsthistorischen Lehrstühle in Oxford und Cambridge eingerichtet werden. Das Warburg Institute hat auch hierzu erheblich beigetragen; siehe ausführlich dazu Wuttke 1984, 133-146). Die Villa des Unternehmers und Kunsthändlers Siegfried Wedell in der Rabenstraße schien dafür sehr geeignet. Doch es war Warburg selbst, der diese Pläne durchkreuzte. Er lehnte den Vorschlag vehement ab, weil er die Bibliothek als selbstständige Institution unbedingt erhalten wissen wollte (Hellwig 2019, 201). Angesichts der Tatsache, dass Warburg nach seiner Rückkehr aus Kreuzlingen dem Kunsthistoriker Gustav Pauli schrieb, dass er ernsthaft überlege, die BW nach Rom zu verlegen, stellt sich die Frage, ob Saxls Bemühungen einer Anbindung an die Universität in Hamburg respektive später in London wirklich in Warburgs Sinne waren.
In Rom hätte es die Verbindung zum archäologischen Institut und zur Hertziana gegeben, die beide für Warburgs Forschungsmethode von grundlegender Bedeutung waren, während eine Universitätsanbindung durchaus die Gefahr einer gewissen methodischen Beliebigkeit barg.
Saxl änderte nach Warburgs Veto denn auch seine Bemühungen und konzentrierte sich auf die inhaltliche Arbeit: Um die Bedeutung der Bibliothek als Arbeitsmittel bekannt zu machen, forcierte er Vortragsreihen und Publikationen wie unter anderem die “Studien aus der Bibliothek Warburg”. Seit 1921 gab er die ungefähr alle vier Wochen stattfindenden Vorträge heraus, wobei er sich – in Absprache mit Warburg – bemühte, Referenten einzuladen, die in ihren Vorträgen Antworten auf ihn selbst bedrängende Fragen gaben. “The result shows that he channelled an interest which had lain dormant or been dispersed; its extent was disclosed only in the process of making it explicit” (Bing 1957, 10). Der erste Band der neuen Reihe enthielt die zu Artikeln erweiterten Vorträge von Fritz Saxl, Ernst Cassirer, Adolph Goldschmidt, Gustav Pauli, Eduard Wechßler, Hellmut Ritter und Heinrich Junker. Saxl ergänzte wenig später das editorische Projekt noch mit der Reihe “Studien”, in der Abhandlungen erschienen, die länger als Artikel waren. Die Reihe wurde 1923 mit Ernst Cassirers Band Die Begriffsform im mythischen Denken eröffnet.
Durch diese Publikationstätigkeiten wurden die Bibliothek und ihr Forschungsgegenstand, Das Nachleben der Antike, in weiten Kreisen bekannt. Besonders der Vorlesungszyklus war eine wichtige Methode, um in einer Zeit der größten finanziellen Schwierigkeiten einigen wenigen Wissenschaftlern die Möglichkeit zum Gedankenaustausch und dann auch zur Veröffentlichung ihrer Arbeiten zu bieten.
Ein weiterer Pfeiler war, die Universität in die Bibliothek zu holen. Erwin Panofsky hatte am 3. Juli 1920 die Venia Legendi für Kunstgeschichte in Hamburg erworben (seine Habilitationsschrift über den Stil Michelangelos hatte er am 11. März 1920 in der Philosophischen Fakultät eingereicht. Der Habilitationskommission gehörten u. a. Ernst Cassirer und Gustav Pauli als Gutachter an) und bot nun als Privatdozent Vorlesungen und Seminare an der Universität an, die er in den Räumen der BW hielt, so dass zahlreiche Studenten Benutzer der Bibliothek wurden und somit eine erste engere Verbindung zur Universität hergestellt worden war, auch wenn Panofsky ab Sommer 1921 – nach Gründung des Kunsthistorischen Seminars nämlich – seine Lehrveranstaltungen nicht mehr in Warburgs Räumlichkeiten hielt. Saxls eigene Habilitation, die schließlich 1922 erfolgte, und seine sich anschließende Lehrtätigkeit waren die nächsten Bausteine des Institutionalisierungsprozesses der Bibliothek (die Schwierigkeiten, die mit Saxls Habilitation verbunden waren, hat Hellwig analysiert in Hellwig 2019).
Die Jahre mit Aby Warburg und der Aufbau der KBW (1921-1933)
“Warburg recovered and his re-appearance out of the depths seemed to those who witnessed it something like Münchhausen’s feat of pulling himself and his horse out of the bog by his own pigtail” (Bing 1957, 12). Drei Jahre nach Bings Eintreten in die Bibliothek konnte Warburg nach Hamburg zurückkehren und die Leitung der BW wieder selbst übernehmen. Saxl war es in der Zwischenzeit gelungen, die Privatbibliothek mehr und mehr in die öffentliche Aufmerksamkeit zu rücken. Warburgs Rückkehr verlief jedoch nicht ganz konfliktfrei. Er traf in seinem Haus Mitarbeiter an, die er nicht eingestellt hatte, Bibliotheksbenutzer, die er nicht kannte, und vor allem bemerkte er, dass zwar alle Besucher seinen Namen, nicht aber ihn als Person kannten, sondern vielmehr Saxl als Leiter ansahen. Ende 1926 beschlossen die beiden daher, dass es keinen Sinn mache, die Leitung der Bibliothek, die nun Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) hieß, zu teilen. Warburg übernahm wieder das alleinige Kommando, und Saxl ging auf Reisen. Er forschte ausgiebig in den Archiven in London, Oxford und Cambridge zu astrologischen Handschriften und kehrte erst nach Hamburg wieder zurück, als Warburg mit Bing zu einem längeren Aufenthalt nach Italien aufbrach.
Die stetigen Bücherankäufe zogen noch ein anderes Problem nach sich – es fehlte nunmehr wirklich der Platz, die Bücher noch sinnvoll aufzustellen. “Die Warburgs hatten mit einem Bücherbestand von knapp 10 000 Büchern das Haus Heilwigstr. 114 im Jahre 1909 und den unmittelbar daran anschließenden Bauplatz Heilwigstr. 116 gekauft” (McEwan 2012, 56). Es lag somit nahe, das Nachbargrundstück für den Neubau der Bibliothek zu verwenden, der 1926 eingeweiht wurde. Warburg hat den Bau – den Gerhard Langmaack in regem Austausch mit Warburgs Freund Fritz Schumacher architektonisch umsetzte – nicht nur mit großem Interesse verfolgt, sondern vor allem dafür gesorgt, dass sich der Kern seiner kulturwissenschaftlichen Methode in der Architektur widerspiegelte. Ein bis heute sichtbares Ergebnis ist der Lesesaal, den Warburg nicht nur – wie immer wiederholt wird – in Erinnerung an Kepler elliptisch gestalten ließ, sondern der auch als sichtbares Zeichen seiner Freundschaft zu dem Heidelberger Altphilologen Franz Boll zu sehen ist. Viele Jahre nämlich war Boll für Warburg der wichtigste Ansprechpartner für alle Fragen hinsichtlich der Astrologie und der orientalischen Antike. 1909 hatte Warburg Bolls Hauptwerk Sphaera über die Geschichte der Sternbilder gelesen und ihm einen Brief geschrieben, in dem er ihm eine andere Deutung eines Wahrsagewürfels vorschlug. Es entwickelte sich in den folgenden Jahren eine Korrespondenz und enge Freundschaft, die durch Bolls Tod am 3. Juli 1924 – nur zwei Tage nach seinem 57. Geburtstag – ein jähes Ende fand. Die beiden Gelehrten hatten sich ausgetauscht, beraten und waren sogar gemeinsam nach Italien gereist. Betroffen war Warburg nicht nur, weil er einen Freund verloren hatte, der ihm gerade in den schweren Kreuzlinger Jahren treu zur Seite gestanden und ihn nicht nur mehrfach besucht, sondern der sich aktiv für Warburgs Forschung eingesetzt hatte. Es war vor allem Bolls Hartnäckigkeit und nicht nachlassendem Zuspruch zu verdanken, dass Warburgs Studie über Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten 1920 in den Berichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erscheinen konnte. Warburg war aber auch deshalb über Bolls Tod bestürzt, weil er ihn mit Cassirer hatte zusammenbringen wollen, denn er hatte sich von einem gemeinsamen Austausch und künftigen Gesprächen viel für seine kulturwissenschaftliche Methode erhofft.
Cassirer hatte am 10. und 11. April 1924 den noch immer sehr angeschlagenen Warburg in Binswangers Sanatorium in Kreuzlingen besucht. Zwei Tage hatten sie intensiv über Kepler gesprochen, der für Warburg den Beginn der Moderne markierte, weil er die antike Form der idealen Kreisform durch die Akzeptanz der Ellipse ersetzt hatte. Das Gespräch mit Cassirer hatte auch Einfluss auf Warburgs Heilungsprozess, wie die Briefe Warburgs nach Cassirers Besuch in Kreuzlingen an die Klinikleitung und an seinen Bruder Max zeigen. In einem Brief vom 16. April 1924 an Max heißt es:
Dass ich mit meinen schweren gedanklichen Selbstquälereien auf dem richtigen Weg bin, dafür ist mir in dem Besuch – wofür ich dem Schicksal dankbar bin – von Cassirer der Beweis erbracht worden. Er will auch Dir darüber berichten. Es hat sich herausgestellt, daß meine allgemeinsten Gedanken, die ich schon seit Jahren unabhängig von meinen empirisch-historischen Beobachtungen aufgezeichnet habe, sich auf einmal zusammenschließen wollen zu einem System, das, sich an die bisherigen Ideen anschließend, doch wohl zu einer neuen Weltanschauung einen Baustein beibringen könnte. […] Nach dem Gespräch mit Cassirer habe ich trotz allem den Mut, das Thema noch weiter zu stecken und zu sagen: Allgemein menschliche Bewegungslehre als Grundlage einer allgemeinen Kulturwissenschaft (Marazia, Stimilli 2007, 115).
Warburg fühlte sich durch Cassirer in seinem Denken so bestätigt und verstanden, dass er kurz darauf nach Hamburg zurückkehren und der neuen Kulturwissenschaft architektonisch Ausdruck verleihen konnte.
Das erste, noch entscheidendere Moment war gewesen, wie ich öfter erzählt habe, wie ich ohne Hilfsmittel in Kreuzlingen den Gedankenprozeß Kepplers für die Neuorientierung des europäischen Menschengeschlechts dem Kosmos gegenüber bis ins Einzelne hinein – wie mir mein Freund und Führer Cassirer bestätigte – richtig erschaut hatte, als Fortschritt vom Bildhaften zum mathematisch-zeichenmäßigen Denken. Ich hatte das Drama, “wie die Ellipse den Kreis überwindet”, als Höhepunkt des um Aufklärung ringenden modernen Menschen richtig ohne Hilfsmittel erwittert (Aby Warburg an seine Brüder vom 31. Dezember 1925 in GS Briefe, 5-6).
Warburg gelang es, den Grundprinzipien seiner neuen Kulturwissenschaft, die Cassirer philosophisch reflektierte, eine fassbare Gestalt zu geben. Was den Warburg-Kreis verband, war die Überzeugung, dass die Kultur von einem Pendelschlag zwischen den Polen Mythos und Logos bestimmt wird. Da die Ellipse zwei Brennpunkte hat, bildete sie die ideale Grundfigur für den Lese- und Vortragssaal dieser besonderen Bibliothek.
Nun, da sich Saxl in England aufhielt, rückte Gertrud Bing an seine Stelle und wurde schon bald nach Warburgs Rückkehr dessen persönliche Assistentin und Sekretärin. Sie half ihm nicht nur beim Ausbau der Bibliothek, sondern insbesondere auch bei seiner Forschungsarbeit, “Sie hat oft geschildert, wie sie sich zum ersten Male diesem großen Gelehrten gegenübersah und wie sie empfand, dass seine tiefen, traurigen Augen ihr geradewegs in die Seele sahen” (Gombrich 1965, 8). Bis der Neubau bezogen werden konnte, hatte Bing zunehmend verantwortungsvollere Aufgaben übernommen:
Ihre Tätigkeiten erstreckten sich von der Akzession, dem damit verbundenen Bibliographieren in Bücherverzeichnissen und Antiquariatskatalogen, über das Führen des Interimskataloges und die Eingangskontrolle, die Systematisierung und Signierung sowie die alphabetische Katalogisierung bis hin zu den Bereichen des auswärtigen Leihverkehrs, der Ordnung und Beschriftung der Diapositive und Photos sowie der wissenschaftlichen Mitarbeit (Schäfer 2003, 189f.).
Zusammen mit Saxl wurde sie nun Teil der Führungstroika der KBW und ab 1927 offiziell als Bibliothekarin geführt (Bericht über die Bibliothek Warburg für das Jahr 1917, 31. Dezember 1927 [WIA, V.2.3.1.1.1]; siehe auch Schäfer 2003, 190).
Für wie wichtig sie selbst ihre Tätigkeit ansah, zeigt eine Eintragung in das Tagebuch der Bibliothek, das Warburg mit Bezug des Neubaus eingeführt hatte und in das regelmäßig einzutragen er seine Mitarbeiter ständig ermahnte:
Ich muß leider konstatieren, daß meine in letzter Zeit verringerte Tätigkeit im Betrieb der BW spürbar wird. Teils liegt es an meinem Umzug, trotzdem ich mich bemüht habe, die Dienststunden nach Möglichkeit von Beeinträchtigung frei zu halten. Teils liegt es aber auch – so schmerzlich es mir ist, es auszusprechen – an meiner stärkeren Beteiligung an den rein wissenschaftlichen Aufgaben und Interessen der Leiter. Ich bin früher ausschließlich im technischen Betrieb tätig gewesen, und meine Arbeit dort, die mir auch niemand abnehmen kann, häuft sich: 1) Es sind Abteilungen fertig geordnet, die nur die Zeit fehlt zu signieren. 2) Es stehen Haufen von Neuerwerbungen aufgenommen bei Herrn Volmer und warten auf Verteilung. 3) Ich verliere meine Übersicht und bin nicht mehr im Stande, wie es früher der Fall war, jedes Buch auf Anhieb zu finden. 4) Ich darf auf keinen Fall aus dem Lesesaal weichen, weil sofort Konfusion entsteht.
Viele kleinere liegengebliebene Arbeiten (unter anderem Berliner Bestellungen) drücken mich auch. Daß ich lieber persönlich herangezogen werde, bedarf keiner Erwähnung. Ich bitte um freundschaftliche Überlegung, wie die beiden Aufgaben zeitlich, nervlich und geistig zu vereinigen wären! (Bings Eintrag vom 7. Juli 1927 in GS Tagebuch, 114).
Warburg erwidert umgehend in seiner Eintragung: “Kollege Bing soll sich nicht quälen: wollen eine bessere Zeiteinteilung für uns bekommen. Vor allem strikte Ferien für die KBW; werde morgen den geplanten Anschlag machen: Vom 1. August bis 1. September für jedermann geschlossen” (Warburgs Eintrag vom 7. Juli 1927 in GS Tagebuch, 114).
Dass Warburg in der 26 Jahre jüngeren Bing sehr bald mehr als nur eine Assistentin sah und sie vielmehr als Kollegin auf Augenhöhe ernstnahm, belegen seine Einträge im Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, das er nach Fertigstellung des Neubaus ab 1926 regelmäßig führte: “Im Lauf des ersten Berichtsjahrs avanciert sie in den Eintragungen vom ‘Fräulein Dr. Bing’ zu Bing, zur Bingia, zum Bingius, schließlich zum ‘Collegen Bing’ (Februar 1927)” (Michels 2005, 125. Wenn heutige feministische Wissenschaftlerinnen darin eine “Vermännlichung” Bings sehen wollen, ignorieren sie den gesellschaftshistorischen Kontext. Siehe u. a. Tack 2020a, oder Sophie Duvernoys Internet-Eintrag in: Gertrud Bing, Jewish Women’s Archive. Dieser Beitrag enthält überdies zahlreiche Fehler). Doch jenseits dieser Namensmetamorphose war Bing für Warburg vor allem auch die “Brücke, über die ich nicht ohne Erschütterung die Geistesverfassung der nächsten Generation kennenlernte”, wie Warburg seinem Bruder Max in einem Brief bekannte (Meyer, Treml 2003). So galt Bing, die die Besucher, wenn Warburg selbst keine Zeit hatte, durch die Bibliothek führte, bereits zu Hamburger Zeiten als Katalysator seiner Ideen. “Diese Führungen sind keine ‘Touristenführungen’, sondern regelrechte Prüfungen, bei denen mancher der harten Kritik – besonders Gertrud Bing zeigt sich streng und unnachgiebig – nicht standhält” (von Stockhausen 1992, 17).
Sie begleitete ihn auch auf seinen Studien- und Vortragsreisen, auf denen sie nicht nur ihn als Wissenschaftler, sondern insbesondere auch die “Methode Warburg” immer besser und tiefer verstehen lernte, so dass er sie schließlich auch auf seine letzte Italienreise zwischen 1927 und 1929 mitnahm, auf der sie unter anderem in Florenz, Rom und Neapel Bildmaterial für sein Hauptwerk, den Mnemosyne-Atlas, sammelten. Bing hatte schon sehr schnell bei ihrer Katalogisierungsarbeit in der Bibliothek bemerkt, dass Warburg seine Bücher wie Mosaiksteine angeordnet hatte, dessen Muster nur er allein im Kopf hatte (Bing 1957, 9). Die Philosophin lernte auf dieser Reise buchstäblich “Sehen”:
Zweimaliger Besuch der Pinakothek belehrt mich (ohne dass das Herz davon hätte), über das Herauswachsen Peruginos aus der umbrischen Malerei. Diese scheint mir in ihrer Entwicklung eine deutliche Ähnlichkeit mit der sienesischen zu zeigen. Beide erweisen sich gleich spröde den Florentiner Errungenschaften gegenüber und behalten bis hoch ins 15. Jahrhundert ihren archaistischen Charakter. Wo antike Motive eintreten (bei Boccati) fallen sie aus dem Bildganzen heraus und durchdringen es nicht. Fiorenzo di Lorenzo kennt (wie etwa Francesco di Giorgio in Siena) die ausdruckssteigernde Bedeutung des bewegten Gewandes, aber da er es losgelöst von seiner Funktion der Körperverdeutlichung verwendet, bleibt es ein überzeugungsloses Geflatter.
Notiert Bing in ihr gemeinsames Reisetagebuch (Bing, Warburg [1928-1929] 2010, 46f.): “Für jemanden, der sich ansonsten in allen Lebensäußerungen der ‘neuen Sachlichkeit’ verpflichtet fühlt, erlebt und beschreibt Bing Kunst ungewöhnlich subjektiv und emotional – was Warburg nicht korrigiert, sondern eher übernimmt” (Bing, Warburg [1928-1929] 2010, 46). Auf dieser Reise lernte Bing immer mehr, die Kunst mit Warburgs Augen zu lesen. Wie schon zuvor bei Cassirer übernahm sie jedoch nicht unreflektiert die Ansichten ihrer ‘Lehrer’, sondern nahm sie vielmehr als Basis für ihre eigenen Überlegungen:
Angefangen, das barocke Rom anzusehen. Riegl und an einem Nachmittag Brauers Hinweise halfen, mir die Augen zu öffnen in bezug auf feinere Unterschiede in Innenraum und Fassade. […] Rom zeigt mir immer mehr die geistige Macht des Katholizismus, den ich in Deutschland viel zu sehr als politische Führerschaft einerseits und als Gewalt über Phantasie und Gemüt andererseits angesehen habe (Bing, Warburg [1928-1929] 2010, 96f.).
Und genau wie Cassirer wenige Jahre zuvor von Bings selbstständigem Denken beeindruckt war, schätzte auch Warburg Bings schnelle kunstwissenschaftliche Fortschritte: “Kollege Bing sollte sich, in ihrer Erwecktheit zum Bildhaften, unerbittlicher klar machen, welchen unheimlichen Reichtum von ‘geordneten Engrammen’ sie in dieser kurzen Zeit selbst erworben hat (von Carracci bis zu den Nazarenern!)” (Bing, Warburg [1928-1929] 2010, 99).
Warburg und Bing sammelten auf dieser Reise aber nicht nur Material für den Mnemosyne-Atlas. Auch Bings Stellung zu Warburgs Arbeit änderte sich. Aus der interessierten, aufgeschlossenen Reisebegleiterin wurde zunehmend eine eigenständige Wissenschaftlerin, die sich nicht nur mit der KBW identifizierte, sondern den Sinn und die Wichtigkeit der Warburg’schen Methode für die Kulturwissenschaft immer mehr erkannte: “Denn abgesehen von diesen wenigen Augenblicken der Neu-Rezeption war der Aufenthalt in Florenz Freunden gewidmet und dem Dienst am Institut, das wir neben der KBW als Hauptaufgabe unserer wirkenden und ‘lebensgestaltenden’ Tätigkeit betrachten” (Bing, Warburg [1928-1929] 2010, 134)
Bing vermochte daher auch Warburg bei seinem großen Vortrag an der Bibliothek Hertziana in Rom zu helfen, den er ihr teilweise diktierte, und lernte durch ihn auf der Reise viele der führenden Gelehrten Italiens kennen: “Die Beziehungen, die sich damals anknüpften, blieben für sie und die Bibliothek richtungsweisend” (Gombrich 1965, 8; siehe auch Schäfer 2003, 191).
Einer dieser dort geknüpften Kontakte war der mit dem Philologen Ernst Robert Curtius, der im Winter 1928 sein Forschungssemester in Rom verbrachte. Am 29. Januar 1929 hatte er den berühmt gewordenen Vortrag Warburgs in der Hertziana gehört, der ihn tief beeindruckt hatte und zu der Idee führte, seinerseits – nach dem Vorbild Warburgs – ein Institut zum Thema “Einfluss der Antike” aufzubauen. Warburg sicherte ihm seine Unterstützung zu und lud ihn zur Besichtigung der KBW nach Hamburg ein. Doch setzte sein Tod am 26. Oktober 1929 dem Austausch ein jähes Ende. Den Dialog mit Bing hat Curtius jedoch auch nach der Übersiedlung der Bibliothek nach London fortgesetzt: “Was Ihre zwei Anfragen anbetrifft”, schrieb Bing beispielweise 1934:
So muß ich wieder feststellen, daß sie, wie schon mehrfach, die unmittelbaren Möglichkeiten der Bibliothek Warburg überschreiten. Der Titel Ihrer Exempla Sammlung ist wirklich sehr interessant, und ich habe unsere Ripa Spezialistin, die Ihnen übrigens ihre Dissertation schicken will, schon daran gesetzt, etwas Näheres über den Mann herauszufinden. Ihrer zweiten Frage in Bezug auf die Prager Universitätsbibliothek bin ich noch nicht nachgegangen. Ich schreibe Ihnen, sobald ich etwas weiß (Gertrud Bing an Ernst Robert Curtius am 27. September 1934 in Wuttke 1989, 49f.).
Einige Zeit später riet Bing ihm, für sein geplantes Mittelalterbuch Karl Borinskis Antike in Ästhetik und Kunsttheorie zu lesen (Gertrud Bing an Ernst Robert Curtius am 27. September 1934 in Wuttke 1989, 116), worauf Curtius antwortete:
Sie erwähnen Borinski. Ich kenne das Buch. Es ist eine ›Fundgrube‹, in der man sich aber auch ein Bein brechen kann. […] Jedenfalls trifft das auf die ersten 99 Seiten zu, die das MA behandeln. Die lateinische Literatur von 400-1300 ist eben bisher nur ganz unzureichend erforscht, und der Versuch, sie geistesgeschichtlich zu inventarisieren und zu analysieren steht noch aus (Ernst Robert Curtius an Gertrud Bing am 6. März 1937 in Wuttke 1989, 117).
So hat Bing auch Curtius’ Arbeit – wie die so vieler anderer – stets hilfsbereit und kenntnisreich begleitet.
Doch in das Ende ihrer Italienreise fiel auch ein anderes Ereignis, das ihre Beziehung zu Saxl betraf und die kühle, unnahbare Bing in einem anderen Licht zeigte. Bing offenbarte in einem zwölf Seiten langen maschinengeschriebenen Brief, den sie am 1. Juni 1929 aus Florenz an Toni und Ernst Cassirer schrieb, ihr seit 1922 bestehendes Verhältnis zu Saxl, das – wie Martin Treml und Thomas Meyer kommentieren – “keine Affäre, sondern eine lebenslange Liebes- und Arbeitsgemeinschaft” (Meyer, Treml 2003, 19) war:
Hundertmal habe ich mir gewünscht, endlich einmal ganz offen mit Ihnen reden zu können, habe mir Vorwürfe gemacht, dass ich Ihrer Herzlichkeit und freundschaftlichen Gesinnung nur so schlecht begegnen konnte – und oft habe ich mich auch um meiner selbst willen gesehnt, unsere Lage mit Ihnen zu besprechen und Ihren klugen und guten Rat einzuholen, wenn ich mal wieder nicht aus noch ein wußte. Ich habe diesen Wunsch immer wieder bekämpft, weil ich nicht um meiner eigenen Erleichterung willen die geheimen Qualen und Kämpfe so vieler anderer Leute enthüllen zu dürfen glaubte. Aber die Unaufrichtigkeit Ihnen gegenüber, deren Freundschaft ich so unendlich wert halte, denen ich so gern frei und rückhaltlos vertraut hätte, hat mir seit langem schwer auf der Seele gelegen, und das Bewußtsein, vor Ihnen in dem falschen Lichte einer etwas undankbaren, kühlen, unzugänglichen Person dastehen zu müssen, hat nicht zum mindesten zu dem Druck beigetragen, unter dem ich lebte (Gertrud Bing an Toni un Ernst Cassirer, 1. Juni 1929, in Krois 2009, 116).
Saxl hatte mit 23 Jahren in Wien am 21. Oktober 1913 die 20-jährige Elise Bienenfeld geheiratet, die ein Mitglied der jüdischen Gemeinde war, während Saxl kurz nach Beendigung seiner Schulzeit am 10. Oktober 1908 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten war. Sie hatten zwei Kinder, Hedwig, geboren am 5. August 1914, und Peter, geboren am 11. Dezember 1915. Zunächst war die Familie gemeinsam nach Hamburg gezogen. Doch als Saxl 1915 eingezogen wurde, kehrte Elise mit den Kindern nach Wien zurück. Als Saxl nach Warburgs Zusammenbruch 1918 die Leitung der Bibliothek übernahm, schickte er seine Kinder auf ein Internat in Deutschland, weil seine Frau wegen einer sich immer stärker zeigenden Nervenkrankheit nicht mehr in der Lage war, für sich und die Kinder zu sorgen (McEwan 2012, 17).
Bings Beichte sorgte im Warburg-Kreis für einigen Aufruhr. Cassirer forderte Saxl in einem Brief energisch auf, die Beziehung zu Bing sofort zu beenden, worauf dieser betroffen antwortete:
Ich habe mir Ihre Vorwürfe gegen mich und Gertrud Bing sehr zu Herzen genommen, habe meine Frau daraufhin gebeten, wieder nach der Wolterstraße zu kommen und auch selbst dahin zurück (zu gehen). Ich habe das getan, nachdem ich mit Gertrud Bing gesprochen hatte und sie vollkommen damit einverstanden war. Weder sie noch ich könnten etwas Ganzes vom Leben haben, wenn meine Frau dadurch unglücklich wird (Fritz Saxl an Ernst Cassirer in Meyer, Treml 2005, 20).
Die Eheleute trennten sich, ohne allerdings die Ehe offiziell aufzulösen. Im Londoner Exil schließlich bewohnten Saxl und Bing im südlich der Themse gelegenen Vorort Dulwich nebeneinander liegende Häuser mit separaten Eingängen, Verbindungstür und einem gemeinsamen Garten (Meyer, Treml 2005, 22).
Im Oktober 1929 starb Aby Warburg. Über seinen unerwarteten Tod schrieb Bing kurz darauf an eine Freundin:
Die äußeren Daten sind so: am 26. Oktober war ich zum Essen beim Professor. Wir sind deshalb nicht mehr zusammen ausgegangen, weil ich so rasend erkältet war, ein Zufall, für den ich nicht dankbar genug sein kann, denn so haben wir einen denkbar harmonischen, sogar vergnügten Abend mit Frau Professor zusammen gehabt, dann noch ein Gespräch allein. Als er sich nach seiner Gewohnheit eine halbe Stunde hinlegen wollte, meinte ich, von oben Frau Professors Stimme zu hören, die “Aby” rief, lief hinauf, um zu erfahren, dass ich mich geirrt haben mußte, lief, damit er sich nicht ängstigen sollte, eilig wieder herunter und fand ihn tot, d. h. es wurde mir erst vielleicht eine Viertelstunde hinterher klar, dass dieses plötzliche, unverständliche und in einem unbegreiflichen, notwendig erscheinenden Geheimnis sich vollziehende Ereignis wirklich das schreckliche Definitivum war, als das es sich mehr und mehr herausstellte (Gertrud Bing an Marianne Joseph (in Köln), 12. Dezember 1929, zitiert nach Heise [1947] 2005, 113).
“Hermia schwimmt!”
Nach Warburgs Tod hat Bing die Ausgabe seiner Gesammelten Schriften ediert, die ursprünglich auf sechs Bände angelegt war. 1932 konnten bei Teubner in Leipzig noch die ersten beiden Bände erscheinen, doch fanden sie wegen der nationalsozialistischen Propaganda in Deutschland wenig Beachtung. 30 Jahre später verfasste Bing zu der italienischen Ausgabe eine bedeutende Einleitung, die die Vorarbeit für ihre Biografie über Warburg bilden sollte und in der sie sich selbst bewusst in dessen Tradition stellte:
Egli [Warburg] ha voluto essere innanzi tutto un maestro e un organizzatore, ha voluto che certi suoi pensieri scientifici, non molti forse di numero ma grandi e svolti organicamente, vivessero e fruttificassero sopratutto nelle menti dei suoi discepoli ch’egli fin da principio considerava collaboratori e destinava successori
[Er [Warburg] wollte in erster Linie Lehrer und Organisator sein, er wollte, dass bestimmte seiner wissenschaftlichen Gedanken, die vielleicht nicht zahlreich, aber umfangreich und organisch entwickelt sind, vor allem in den Köpfen seiner Schüler leben und Früchte tragen, die er von Anfang an als Mitarbeiter betrachtete und die als Nachfolger bestimmt waren (Bing, Introduzione, in RPA, IX f.; Übersetzung D.G.)].
Für diese Biografie interessierte sich in den 1950er-Jahren auch das offizielle Hamburg. Ernst Gombrich, der extra zur Bearbeitung des Nachlasses Warburgs eingestellt worden war, berichtete über die geplante Gesamtausgabe in seiner eigenen Biografie Warburgs:
Es war beabsichtigt, so stand auf der ersten Seite der Gesammelten Schriften zu lesen, den zwei Bänden der publizierten Werke Warburgs fünf weitere folgen zu lassen. Der dritte sollte dann das Werk umfassen, mit dem sich Warburg in den letzten Lebensjahren beschäftigt hatte, den Mnemosyne genannten “Atlas”, eine umfangreiche Bildersammlung, die Warburgs Anschauung von den Kräften, die die Entwicklung des abendländischen Geistes bestimmt hatten, rekapitulieren und erläutern sollte. Der nächste Band sollte sämtliche unveröffentlichten Vorträge und kleineren Abhandlungen enthalten. Der fünfte Band galt seinen Fragmenten zur Ausdruckskunde auf anthropologischer Grundlage, der sechste den Briefen, Aphorismen und autobiographischen Aufzeichnungen, und als siebten Band wollte Fritz Saxl schließlich den Katalog der Bibliothek Warburg veröffentlichen, denn, wie er schrieb, “die Bibliothek und die Schriften bilden erst zusammen die Einheit von Warburgs Werk”. Die Hindernisse, die der Verwirklichung dieser weitgesteckten Ziele im Wege standen, waren äußere wie innere (Gombrich [1970] 1992, 14).
Doch zunächst hatte der Krieg eine Veröffentlichung der Gesammelten Schriften verhindert. Tilmann von Stockhausen vermutet außerdem, dass sich Gombrich zunehmend von dem Projekt distanziert habe, weil “ihm eine Veröffentlichung der teilweise schwer zu lesenden Briefe und Tagebücher nicht sinnvoll erschien” (von Stockhausen 1992, 12). Gombrich arbeitete stattdessen an seiner eigenen Biografie über Warburg, die 1970 erschien und bis heute einerseits sehr umstritten ist, andererseits aber das Bild Warburgs nachhaltig geprägt hat.
Nach Warburgs Tod hatte Fritz Saxl die Leitung der Bibliothek übernommen, und Bing wurde seine stellvertretende Direktorin. Ihre erste gemeinsame Arbeit bestand darin, die Ausstellung über Sternglauben und Sterndeutung, die Warburg für das Planetarium in Hamburg konzipiert hatte, in seinem Sinne umzusetzen:
The core of the exhibition consisted of several hundred full-scale models, casts, charts, drawings and photographs of monuments and objects, chosen to demonstrate the development of scientific astronomy from its origins in religion and magic. Albert Einstein and his collaborator Professor Finlay-Freundlich helped with the section on modern cosmology. Planetarium and exhibition were opened with a display on the domed screen of the huge instrument which showed the slow concourse of the planets in the sign of the Scorpion, forming a replica of the fateful constellation of 1484; it was homage to Warburg, who had shown that this conjunction was the cause of the misreading of Luther’s birthday (Bing 1957, 14f. [1]).
Doch seit Beginn der 1930er-Jahre wurde Bing, Saxl und Wind zunehmend bewusst, dass sie ihre Arbeit nicht viel länger in Deutschland würden fortsetzen können [2]. Der enge Kreis, der um und mit Warburg gelebt und gearbeitet hatte, begann hellsichtig damit, seine Forschungsinteressen auf ein angelsächsisches Publikum auszurichten. Saxl reiste noch einmal nach England, um Referenten für die letzte Vortragsreihe in Hamburg über “England und die Antike” einzuladen. Während Ernst Cassirer 1932 über Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge arbeitete und dabei, auf philosophischer Ebene, die Entwicklung von der Moralphilosophie zur Ästhetik anhand der englischen Rezeption Platons nachvollzog, begann Saxl nun, in seiner Editionsreihe zunehmend Vorträge auf Deutsch und auf Englisch abzudrucken. Er selbst wandte sich der englischen Ästhetik zu und hielt im Wintersemester 1932/33 Übungen über die englische Kunst und Kunstanschauung im 18. Jahrhundert (McEwan 2012, 140). Neben England wurden zunächst auch die Standorte Italien, New York, Holland, Schweiz und Jerusalem diskutiert. Doch ab Mai 1933 stand fest, dass die KBW nach London emigrieren sollte, weil man sich dort die größte Rezeptionsfähigkeit für die Bibliothek versprach. Im Nachhinein stellt sich jedoch die Frage, ob Warburgs Wunsch, die KBW nach Italien zu verlegen, inhaltlich und methodisch nicht sinnvoller gewesen wäre. England besaß keine Tradition der Kunstgeschichte an den Universitäten, als die KBW ankam, und Saxl und Bing mussten zeit ihres Lebens viel Arbeit aufwenden, Warburgs Methode und Forschung zu erklären. Italien hingegen hatte sich von den theoretischen Debatten des 20. Jahrhunderts nie so vereinnahmen lassen wie das übrige Europa, sondern hat – über die Beschäftigung mit der Renaissance und Antike – den Wert der geschichtlichen Betrachtung nicht so vollständig preisgegeben wie Deutschland im 20. Jahrhundert. Sowohl in Hamburg als auch in London war die KBW im Grunde ein geistiger Fremdkörper. In Deutschland galt sie zunehmend als anachronistisch und zu international, während sie in England auf ein positivistisches und pragmatisches Denken stieß, das dem Warburg-Cassirer-Kreis vielfach skeptisch begegnete. Eine Episode, die Delio Cantimori in einem Brief erzählt, der 1965 in der Broschüre In memoriam veröffentlicht wurde, ist vor diesen Überlegungen nicht unerheblich. Cantimori berichtet, wie Bing auf italienische Wissenschaftler zuging, die das Warburg Institute in London besuchten. Bing pflegte den Italienern, die keine Sprachen beherrschten, zu sagen: “Keine Sorge, wir sprechen hier Italienisch oder wir verstehen es, denn wer kein Italienisch kann, ist kein zivilisierter Mensch” (Del Prete [2009] 2020, 27f.).
Doch Saxl und die Familie Warburg entschieden sich für England. William George Constable, der erste Direktor des neugegründeten Institutes für Kunstgeschichte, The Courtauld Institute of Art, und Charles Stanley Gibson, Professor in Guy’s Hospital, die beide von den Schwierigkeiten der KBW gehört hatten, reisten nach Hamburg, um sich vor Ort genauer zu unterrichten. In ihrem anschließenden Bericht an den Direktor der School of Oriental and African Studies an der Universität London setzten sie sich für die Übersiedlung der gesamten Bibliothek ein, die, als dreijährige Fernleihe getarnt, verschifft werden sollte. Darüber hinaus garantierten Sir Samuel Courtauld und Lord Lee of Fareham eine Summe von 3.000 englischen Pfund für die Gehälter der Angestellten auf drei Jahre (Bing 1957, 19). Saxl sollte der Direktor sein, Bing die Herausgeberin der Schriften Warburgs, Hans Meier der Bibliothekar und Otto Fein der Buchbinder und Fotograf (McEwan 2012, 145). Zusätzlich zur Finanzgarantie hatte Gertrud Bing gehört, dass Anstellungsmöglichkeiten für Mitarbeiter der KBW in England bestünden: Für Ernst Cassirer in Oxford, Edgar Wind in Cambridge und Erwin Panofsky in Edinburgh.
Am 30. November 1933 wurde die Offerte für den Transport der Bücherkisten und der Bibliothekseinrichtung durch die Firma Berthold Jacoby in Hamburg und Walter Winning & Co. in London erstellt. Im Dezember 1933 legte in Hamburg der kleine Frachter der Hamburg-Amerika-Linie ab. In 531 Kisten transportierte der Dampfer “Hermia” die gesamte bewegliche Habe der KBW: 65.000 Bücher und die umfangreiche fotografische Sammlung mit 25.000 Abbildungen zusammen mit Regalen, Möbeln und Gerätschaften (Diers 1993, 9). Am 13. Dezember schickte die KBW an Saxl das Telegramm “Hermia schwimmt”, das noch heute im Flur des Warburg Institute hängt. Kurz vor Weihnachten reiste auch Bing nach London, um die Kisten mit in Empfang zu nehmen. Am 1. Januar 1934 trat sie aus der Deutsch-Israelischen Gemeinde Hamburg aus. Cassirer sollte ihrem Beispiel am 9. Juni folgen (Meyer, Treml 2005, 22). Mitte Januar 1934 wurden die letzten Bücher und der Rest der Einrichtung verschifft. Bing, die trotz Grippe wieder nach Hamburg zurückgekehrt war, um die letzten Arbeiten zu organisieren, sorgte sich nun vor allem um das Wohl der Mitarbeiter. In einem Brief an Saxl bat sie:
Ich möchte Sie bitten, sich doch einmal die Frage zu überlegen, ob wir für die nächsten Monate alle zusammen ein möbliertes Haus nehmen und Frau Lachmann die Wirtschaft führen soll. Für sie wäre es eine große Erleichterung, aber das soll nicht der ausschlaggebende Gesichtspunkt sein. Ich denke dabei auch, ob es für uns nicht das Angenehmste und Billigste wäre und ob man dadurch nicht tatsächlich auch Fräulein von Eckardt die erste schwere Zeit des Eingewöhnens und der sprachlichen Ungewandtheit erleichtern könnte. Bitte hierüber aber recht schnell definitive Antwort, denn Frau Lachmann muß wissen, ob diese Möglichkeit für sie besteht (Gertrud Bing an Fritz Saxl, 30. Dezember 1933 [WIA GC]).
Einer der ersten Höhepunkte in der neuen Heimat war ein Vortrag von Niels Bohr aus Kopenhagen über Some Humanistic Aspects of Natural Science, und Saxl begann sofort damit, die früheren “Studien” nun als “Studies” in englischer Sprache herauszugeben, wobei die ersten drei Bände erst 1938 erschienen und neun weitere in den Jahren 1939 und 1940 publiziert wurden.
Bis Kriegsende war Bing immer wieder damit beschäftigt, Mitarbeitern Stellen, Wohnungen oder Lehrplätze zu verschaffen. “Many of the refugee scholars made the Institute their first port of call and place of work” (Bing 1957, 20), notierte sie in ihren Erinnerungen über Saxl. Und Ernst Gombrich berichtete über diese Zeit:
Die schweren Jahre, die nun folgten, erwiesen die volle Charaktergröße von Gertrud Bing. Selbst heimatlos geworden, sorgte sie klaglos für andere. Ihr kleines Zimmer in der improvisierten Bibliothek, deren Existenz noch längst nicht gesichert war, wurde zusehends zu einem Zentrum der Flüchtlingshilfe. Tagaus, tagein – und weit in die Nacht hinein – kamen die entlassenen Kollegen und ausgebürgerten Freunde, jeder mit seinem eigenen tragischen Schicksal, um von ihr Rat und Beistand zu verlangen, und kaum einer ging enttäuscht davon. Aber wertvoller noch als alle tätige Hilfe war die menschliche Wärme und seelische Kraft, die sie ausstrahlte, ihr unerschütterlicher Glaube, dass auch in einer wahnsinnigen Welt die Weiterführung der Forschungsarbeit und die Bewahrung des geistigen Erbes mehr bedeuten, als die Sorgen des Alltags, wie dringend sie auch immer wurden (Gombrich 1965, 9f.).
Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Bing als Ambulanzfahrerin für den Rettungsdienst. Die Bibliothek, die nun “Warburg Institute” hieß, war – bevor sie ihr jetziges Domizil am Woburn Square beziehen konnte – zunächst bis 1937 in den Räumlichkeiten von Thames House in Millbank in London untergebracht und anschließend im Imperial Institute Building der University Library in South Kensington, bis es 1944 zur Angliederung an die Universität London kam (Die Angliederung an die Universität London erfolgte am 28. November 1944; Vgl. Wuttke 1984. Wiederabgedruckt in Bredekamp, Diers, Schoell-Glass 1991, 141-164. Siehe auch “The Times” 12 December 1944; Saxl 1944).
Während des Krieges war sie jedoch außerhalb Londons ausgelagert, wohin Bing ihr allerdings erst folgte, als der Bibliothekar Hans Meier bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war (Schäfer 2003, 192). In derselben Nacht, in der Meier starb, der einer der loyalsten Mitarbeiter gewesen war und den Saxl seinen besten Freund, den er jemals gehabt hatte (Bing 1957, 34), nannte, wurde einer der Kataloge der Bibliothek, der an die National Central Library ausgeliehen worden war, durch einen Brand zerstört (Bing 1957, 23).
Ab 1944 – Bing war jetzt 52 Jahre alt – nahm sie als Vizedirektorin ihre Bibliotheks- und Verwaltungsarbeit am Warburg Institute wieder auf.
Die Londoner Jahre: Aufbau des Warburg Institutes (1933-1964)
Kurz nach der Übersiedlung nach London publizierte Bing 1934 einen Text, in dem sie der englischen akademischen Öffentlichkeit die Entstehung, Struktur und Aufgabe der KBW erläuterte und dabei hervorhob, dass es sich nicht um eine Privatbibliothek eines exzentrischen Gelehrten handle, sondern die Bibliothek von Anbeginn an immer zweigleisig gefahren sei, indem sie einerseits Werke zu ihrem speziellen Forschungsgebiet, der “Verfolgung der griechischen und römischen Tradition in der nachklassischen Zivilisation” sammle und andererseits immer eine “workshop nature” (Bing [1934] 2020, 2023]) als Forschungsinstitut gepflegt habe. Beides zusammen sei nicht nur untrennbar miteinander verbunden, es bilde auch die Grundlage für die Anordnung der Bücher, ihre Klassifizierung und die Organisation der Arbeit mit ihnen. Und drittens hob sie den “erzieherischen” Aspekt der KBW hervor, der nicht nur gestandene Forscher, sondern auch Studenten dazu bringen wolle, durch das Wandeln durch die Gänge der frei zugänglichen Bücherregale sich ein bestimmtes Thema anzueignen oder zu vertiefen (Bing [1934] 2020, 2023], 22). Warburgs Überzeugung, dass es die Bücher selbst seien, die den Forscher leiten sollen, und nicht eine schon vor Beginn der Recherche gefestigte Meinung, die es dann nur noch engstirnig zu bestätigen gelte, habe seinen eigenen offenen Blick auf die Entwicklung der Kultur immer bestimmt. Sie bilde die Grundlage seiner Forschungsmethode. Es sei hingegen wohl einmalig, dass diese nicht nur visuell umgesetzt werde, sondern für andere Forscher buchstäblich körperlich nachvollzogen werden könne.
“The scholar who is expected to penetrate into borderlands of his special subject must find the new territory ready surveyed for him by the able planning of an expert” (Bing [1934] 2020, 2023], 22). Bing, die selbst wissenschaftlich gearbeitet hatte, wusste aus eigener Erfahrung, wie wertvoll eine solche geistige Umgebung für akademisches Arbeiten ist. Insofern wird man ihr auch nicht gerecht, wenn man ihre Aufgaben auf die einer reinen Buchverwalterin reduziert. Das Prinzip der ständigen möglichen Umstellungen der Bücher verlangte vielmehr jemanden, der sich nicht nur in dem Forschungsgebiet der Bibliothek bestens auskannte, sondern dessen Verstand selbst so lebendig und kreativ war, dass ihm endlos neue Aufstellungsvarianten – das heißt Themen – in den Sinn kommen konnten. Mag Bings nachlesbares Werk klein sein, ihr erfahrbares war es gleichwohl nicht. So erinnerte sich auch Kurt W. Forster nicht von ungefähr an sie: “Whenever Gertrud Bing was mentioned, it was as Warburg’s research assistant and a colleague of Fritz Saxl, unfairly qualifying her true role” (Forster 2020, 170). Es war Bing, die immer wieder lenkend und führend in die Forschungsarbeit der ihr anvertrauten Wissenschaftler eingriff. Donald James Gordon beschreibt denn auch in seinem Nachruf keine schüchterne Frau, die von den Männern der KBW zur Seite gedrängt wurde, sondern vielmehr eine Persönlichkeit, die durchaus Furcht einflößend aufgrund ihrer Strenge war und der Schärfe und Schnelligkeit ihrer Fragen. Für Gordon war Bing der Inbegriff der emanzipierten Frau der 1920er-Jahre (Gordon [1965] 2020), die zwar freundlich und zugewandt war, doch die ihr Privatleben bedeckt hielt. Genau wie Warburg, der zweimal einen Ruf auf eine Professur abgelehnt hatte, hatte auch Bing eine Abneigung gegen Vieles in der akademischen Welt und fürchtete, dass aufgrund der Erosion traditioneller Wissensgebiete die Gefahr bestehe, die Bedeutung der Arbeit an der KBW zu vergessen (Gordon [1965] 2020, 152). Bing verabscheute – auch hierin folgte sie Warburg – bürokratische Gängeleien und jegliche intellektuellen Betrügereien (Gordon [1965] 2020, 148). Sie hat sich für Warburgs Arbeit deshalb so eingesetzt, weil sie zutiefst von seiner Methode, Wissenschaft zu betreiben, überzeugt war. Warburg nur auf der Basis seiner publizierten Werke verstehen zu wollen, ohne den Bau der Bibliothek, den Atlas und die Ausstellungen von 1926, 1927 und 1930 über Sternglauben und Sterndeutungen miteinzubeziehen, führt genauso zu Missinterpretationen, wie ihrerseits Bing nur auf ihre wenigen Publikationen zu reduzieren. Obwohl Bing die Leitung der KBW offiziell erst 1955 übernahm, tat sie seit der Ankunft in London alles dafür, aus der KBW, The Warburg Institute zu machen, das seinen festen Platz in der englischen academia erhalten sollte:
Alle Institutsmitglieder hatten es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Arbeiten in England weiterzuführen und dadurch ihren neuen Kollegen die Wichtigkeit und Nützlichkeit ihrer so verschiedenen Methode historischer Forschung vor Augen zu führen: eine neue Fragestellung zur Untersuchung und Gegenüberstellung von Wort und Bild. Über die Jahrzehnte hinweg war es nicht zuletzt auch die Arbeit, die das Warburg Institute leistete, dass sich in Großbritannien die Auffassung von kunstgeschichtlichen Studien über den traditionellen Rahmen der reinen Kennerschaft hinaus “zum Studium der Bilder in ihrem kulturellen Kontext” durchsetzte (McEwan 2012, 157).
Bing stellte die Aufnahme in England allerdings nicht ganz so euphorisch dar wie Dorothea McEwan:
Warburgian studies […] which treated works of art, like all imagery, as the products of many strands of a cultural tradition converging in a given moment of history, had brought art history nearer to history. But the unbelieving had still to be convinced that images were not less secure guides to the actions, notions and states of mind of those who used them than written documents. The emphasis in Saxl’s first English papers on the historical connotations of visual evidence shows that he was aware of the doubts with which he had to contend (Bing 1957, 28).
Es gelang auch keineswegs allen ‘Warburgianern’, in England Fuß zu fassen. Cassirer ging 1935 nach Schweden ins Exil. Seine Kulturphilosophie fand in der britischen academia, die sich der analytischen Philosophie verschrieben hatte, wenig Anklang. Den Dialog mit Warburg setzte er jedoch auch nach dessen Tod fort. Seine 1942 im amerikanischen Exil geschriebenen Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften sind ein Vermächtnis dieses so überaus fruchtbaren Gesprächs. Doch sie resümieren nicht nur die ‘neue’ Kulturwissenschaft, sondern geben Stichworte für eine Geisteswissenschaft, die sich auf ihre europäische Tradition gründet und die an Aktualität nichts verloren hat. Statt sich von den Grenzen der Einzeldisziplinen einengen zu lassen, gehörte es von jeher zur Methode des Warburg-Kreises, Fächer- und Landesgrenzen zu sprengen und in weiten Zeiträumen zu denken. Edgar Wind folgte 1940 Erwin Panofsky in die USA, wohin dieser nach der Machtübernahme der Nazis geflüchtet war.
Als Fritz Saxl am 22. März 1948 starb, hatte sich das Institut zu einem Forschungszentrum gewandelt, in dem auch die Lehre immer wichtiger geworden war. Bing, die in jener Zeit die Jahresberichte verfasste und interimistisch als Direktorin tätig war, bis Henri Frankfort die Leitung 1949 übernahm, betreute neben ihren Institutsaktivitäten – Organisation von Vorträgen, Bücherankäufe, Vorlesungskurse, Betreuung ausländischer Besucher, Veröffentlichungen – auch die Herausgabe von Saxls Vorträgen, die 1957 auf Englisch erschienen. Für das Vorwort zur italienischen Ausgabe (Garin 1965) gelang es ihr, den Philosophen und Renaissanceforscher Eugenio Garin zu gewinnen, mit dem sie seit 1948 korrespondierte und den sie bei ihren nach dem Krieg wieder aufgenommenen Italienaufenthalten mehrfach besucht hat. Garin erkannte als einer der Ersten die Verbindungslinien zwischen Warburgs, Saxls und Cassirers Denken und führte vor allem auch Warburgs und Saxls Arbeiten über die Astrologie in der Renaissance weiter [3].
Bing hatte mit Saxls Tod auch ihren Lebensgefährten verloren, was allerdings in den offiziellen Dokumenten unerwähnt blieb. In einem Brief an ihre Freundin Toni Cassirer beklagte sie jedoch den “schweren Verlust” und äußerte ihre Sorgen vor der neuen “schweren, vielleicht unerfüllbaren Aufgabe”, die Biografie über Warburg, die Saxl im Krieg begonnen hatte, nun zu Ende führen zu müssen (Gertrud Bing an Toni Cassirer, 27. August 1948 [WIA GC]. Ihren Freund und Gefährten ehrte Bing 1957 mit Fritz Saxl (1890-1948). A Biographical Memoir (Gordon 1965), die sie mit den Worten schloss:
More than once, when people were trying to find a formula for him, they hit independently upon a comparison with Mercury, the airy, fast-moving, mischievous messenger of gods, tutelary deity of travelers, scholars and craftsmen. Perhaps it was not quite fortuitous that this figure had such an attraction for Saxl’s historical imagination. His mercurial temperament served him well in his self-task of mediator (Bing 1957, 35).
Den britischen Pop-Art-Künstler Ronald Brooks Kitaj regte ihre Würdigung Saxls, in der sie auch über Warburgs Zusammenbruch von 1918 gesprochen hatte, 1962 zu dem Bild Warburg as Maenad an. In das Bild collagierte Kitaj, indem er Bings Schrift nachahmte, einen erklärenden Text aus Bings Essay hinein:
Warburg had foreseen the outcome of the war from the beginning, and throughout its course watched with growing anxiety every bad omen of political, moral and intellectual decline. In the autumn of 1918, when the world round him fell to pieces, he broke down. Just before and during the war he had been concerned with a historical period also filled with forebodings of catastrophe: he had made a study of Luther’s and Melanchthon’s attitude towards astrology and portents through the imagery found in prognostications, calendars and the reformers’ letters and lampoons (Bing 1957, 9).
Als Henri Frankfort 1955 überraschend starb, übernahm schließlich Gertrud Bing im Alter von 63 Jahren die Leitung des Instituts und erhielt den damit verbundenen Lehrstuhl für das “Studium des Nachlebens der Antike” an der Universität London. 1959 übergab sie die Leitung des Instituts an Ernst Gombrich. Im Jahr ihrer Emeritierung erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Reading und widmete ihre letzten Monate nun nur noch dem Schreiben der Biografie Warburgs, die sie leider aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr vollenden konnte.
Die Warburg-Biografie
Zu den Arbeiten an der Biografie über Warburg kam Bing erst 1959 wieder, nachdem sie von ihrer ersten Reise nach Deutschland zurückgekehrt war. Philippe Despoix und Martin Treml haben einige Dokumente, die im Vorfeld der Entstehung des Manuskripts eine entscheidende Rolle gespielt haben, abgedruckt; allerdings ist es nur eine sehr kleine Auswahl, so dass das Bild unvollständig bleibt (Despoix, Treml 2019). Alle Dokumente dazu, wie es zum Forschungsauftrag seitens des Hamburger Senats an Bing kam, eine Biografie über Warburg zu schreiben, liegen im Hamburger Staatsarchiv. Aus den knapp 500 Seiten umfassenden Dossiers geht hervor, dass Bing zunächst im Juli 1957 an den Senator Hans von Heppe, dann erneut im November 1958 über den Rechtsanwalt Max Finck einen Antrag auf Wiedergutmachung an die Kulturbehörde in Hamburg gestellt hatte, der vom Personalamt mit der Begründung abgelehnt worden war, Bing sei nicht Angehörige des öffentlichen Dienstes gewesen, weil die Warburg-Bibliothek zwar der Öffentlichkeit zur Verfügung gestanden habe, aber dennoch eine private Einrichtung gewesen sei. Einen Wiedergutmachungsanspruch könne Bing nur dann eventuell geltend machen, wenn nachträglich ein Antrag an die Bundesregierung gestellt werde, die Warburg-Bibliothek als “Einrichtung der öffentlichen Hand” anzuerkennen. Das Personalamt machte jedoch deutlich, dass selbst nach dieser Anerkennung Bing keinen Anspruch auf Wiedergutmachung habe, da ihr Angestelltenverhältnis an der Bibliothek nicht durch die Nationalsozialisten beendet worden sei, sondern durch die Schenkung der Bibliothek 1944 an die Universität London seitens der Warburg-Familie:
Daß die Warburg-Bibliothek bis zu ihrer Eingliederung in die Universität London eine reine Privatbibliothek war, die ausschließlich aus Mitteln der Familie Warburg erstellt worden ist, dürfte außer Zweifel stehen. Auch der Unterhalt der Bibliothek wurde ausschließlich von privater Seite bestritten. […] Das Angestelltenverhältnis von Frau Professor Dr. Bing ist durch die Verlegung der Bibliothek im Jahre 1934 nach London nicht beendet worden. Das Angestelltenverhältnis bestand zur Warburg-Bibliothek, die damals lediglich ihren Standort wechselte. Das Personalamt vermag keine Gründe zu erkennen, die darauf schließen lassen, der Status der Bibliothek oder die Verträge der Bediensteten seien durch die Verlegung einer wesentlichen Änderung unterworfen worden, zumal die Verlegung ursprünglich nur für drei Jahre geplant war (schreiben des Personalamts an die Schulbehörde Hamburg, Hochschulabteilung, vom 16. April 1959, in StA Hbg., 131-11 Personalamt, Nr. 1138).
Die abschlägige Entscheidung der Behörde sorgte unter den ehemaligen Schülern und Mitarbeitern Warburgs weltweit für große Empörung, und sie planten daraufhin ein Memorandum, indem die “Verkennung der Warburg-Bibliothek und ihrer öffentlichen Funktion als Kulturschande angeprangert” werden sollte (Aktenvermerk vom 25. Januar 1961, in StA Hbg., 363-366 Kulturbehörde, Nr. 322). Tatsächlich schreckte den Senat diese Drohung auf. Bing wurde offiziell eingeladen, anlässlich der Wiederaufstellung der von Mary Warburg angefertigten Warburg-Büste in der Kunsthalle eine Rede zu halten [4]. In einem Brief Bings an Senator Hans-Harder Biermann-Ratjen antwortete sie denn auch erfreut:
Es ist mir eine Freude, aus Ihrem Brief zu ersehen, dass es nicht nur meine guten Freunde an der Kunsthalle sind, die meine Teilnahme an der Feier zur Wiederaufstellung von Warburgs Büste als angemessenen empfinden. Ich kann nicht umhin, die Neuaufstellung des Meisters Bertram Altars als noch bedeutsamer anzusehen als die Wiederaufstellung der Büste; aber im Sinne Warburgs, der so sehr an Hamburg gehangen hat, freue ich mich natürlich, dass sein Portrait jetzt mit denen der Hamburger Bürgermeister zusammen erscheinen soll. Ich nehme daher Ihre Einladung, an der Feier teilzunehmen, gern an (Bing 1958, 159).
Sie reiste Ende Oktober nach Hamburg, und der Senat suchte im Gespräch mit ihr, eine Lösung zu finden. Der Vorschlag, den ihr Senatssyndicus von Heppe unterbreitete, war ein offizieller Forschungsauftrag für das Verfassen einer Biografie Aby Warburg und seine Zeit, der entsprechend dotiert werden sollte, um “auf einem anderen Wege etwas von der Dankesschuld abzutragen, die durch die langjährige großzügige Bereitstellung der Bibliothek für Wissenschaft, Forschung und geistiges Leben in Hamburg besteht” (Senatssyndicus H. von Heppe an Senator Dr. Biermann-Ratjen am 16. Mai 1961, in StA Hbg., 363-6 Kulturbehörde, Nr. 322). Die Verhandlungen allerdings innerhalb der zuständigen Behörden über die Höhe der Dotierung und den inhaltlichen Aufbau der Biografie – die Vertreter der Stadt wollten Hamburg als Kulturstadt geehrt wissen – zogen sich schließlich über vier Jahre hin.
In einem Brief vom 4. Dezember 1958 berichtete Bing Walter Solmitz, einem weiteren Cassirer-Schüler und engen Freund aus dem einstigen Warburg-Kreis, derweil ahnungslos darüber, welche Debatten sie ausgelöst hatte, über ihre Wiederbegegnung mit Hamburg nach 24 Jahren:
Ich war in der Heilwigstraße 116, wo jetzt eine Filmgesellschaft wohnt, aber wo man alles von Warburg und seinen “hochherzigen Stiftungen” wußte […] im ganzen hatte ich das Gefühl, dass die Hamburger dachten, wenn Fräulein Bing wieder nach Hamburg gekommen ist, ist das ein Zeichen, dass der liebe Gott Deutschland verziehen hat. […] Die Landschaft von Alster und Elbe trägt dazu bei, Wunden zu heilen (topographisch sowohl wie psychologisch). Es war ein Schock (der mir erst hinterher zum Bewußtsein kam), eine Vertrautheit zu spüren, die viel tiefer geht als alles, was man seither erlebt hat (Gertrud Bing an Walter Solmitz, 4. Dezember 1958; zitiert nach Grolle 1994, 163).
Vor diesem Hintergrund mutet es befremdlich an, wie sehr das offizielle Hamburg über das Geld für den Forschungsauftrag feilschte. Endlich einigte man sich nach zähen Senatsverhandlungen auf 40.000 DM und senkte diese dann doch wieder auf 30.000 DM, zu teilen in zwei Tranchen [5]. 15.000 DM erhielt Bing, die sich mittlerweile in Florenz zu Recherchearbeiten für die Biografie aufhielt, sofort, und die restlichen 15.000 DM sollten nach Abgabe des Manuskripts, das zum 100. Geburtstag Warburgs 1966 vorliegen sollte, ausgezahlt werden. Auch hinsichtlich der Sprache hatte man verhandeln müssen. Bing präferierte das Englische, weil sie sich ein größeres Lesepublikum versprach. Der Senat jedoch bestand auf der deutschen Sprache. Bing gab nach, sagte auch zu, Zwischenberichte über den Stand der Arbeit vorzulegen, und so konnte endlich im Oktober 1962 der Vertrag über den Forschungsauftrag zum Verfassen einer Warburg-Biografie von beiden Seiten unterzeichnet werden (StA Hbg., 363-6 Kulturbehörde, Nr. 322). Knapp zwei Jahre später starb Bing im Juli 1964. Die restlichen 15.000 DM hat sie nie erhalten, und ihre Warburg-Biografie, über deren Finanzierung so erbittert gestritten worden war, blieb ein ungeschriebenes Buch.
Monica Centanni hat in der Zeitschrift Engramma einen Beitrag über einen unveröffentlichten Brief Ernst Gombrichs an Delio Cantimori vom 29. Oktober 1964 (Centanni 2020) publiziert, der Gombrichs Umgang mit Bings Papieren in einem neuen Licht zeigt. Auf der Basis des Briefs an Cantimori vermutet Centanni, dass es nicht nur Spannungen zwischen Bing und Gombrich gegeben habe, sondern – schwerwiegender noch –, dass sich Gombrich des jahrelang von Bing “eifersüchtig gesammelten Materials” (Centanni 2020, 128) für seine eigene Warburg-Biografie, die 1970 erschien, bedient habe. Centanni konstatiert:
Alla luce dei nuovi documenti, la ricostruzione proposta da Gombrich, già in sé contorta e poco convincente, proprio non regge. In particolare si noti il tono assertivo e perentorio con cui Gombrich risponde a Cantimori sulla perdita totale del materiale di Bing e, d’altro canto, il fatto che non faccia il minimo accenno alla biografia sulla quale egli stesso – a dar retta alla sua ricostruzione del 1970 – sarebbe stato impegnato da anni. Sta di fatto che della capziosa – infelice e per altro fortunatissima – Intellectual Biography che Gombrich pubblica nel 1970, quel che resta di più valido sono – a tutt’oggi – i materiali recuperati dagli appunti, dai frammenti e dall’epistolario di Warburg: probabilmente il materiale che Bing aveva gelosamente raccolto e custodito per decenni
[In Anbetracht der neuen Dokumente ist Gombrichs ohnehin schon verworrene und wenig überzeugende Rekonstruktion nicht haltbar. Besonders hervorzuheben ist der selbstbewusste und eindringliche Ton, mit dem Gombrich Cantimori auf den Totalverlust des Bing-Materials antwortet, und andererseits die Tatsache, dass er nicht den geringsten Hinweis auf die Biografie gibt, an der er selbst – laut Rekonstruktion von 1970 – jahrelang gearbeitet hat. Es ist eine Tatsache, dass von der fesselnden – unglücklichen, auf jeden Fall sehr erfolgreichen – Intellektuellen-Biografie, die Gombrich 1970 veröffentlichte, das Material, das aus Warburgs Notizen, Fragmenten und Briefen geborgen wurde, bis heute am meisten Gültigkeit hat: wahrscheinlich das Material, das Bing jahrzehntelang eifersüchtig gesammelt und gehütet hat (Centanni 2020, 143; Übersetzung D.G.)].
Man darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen, dass Bing mehrfach ausdrücklich erklärt hatte, sie wolle die Biografie Warburgs vor allem auf der Grundlage seiner reichen Korrespondenz schreiben (Despoix, Treml 2019, 89-96). Es wird mitunter vergessen, dass Bing Warburg nur in seinen letzten fünf Lebensjahren persönlich erlebt hat (insofern ist es nicht gerechtfertigt, sie als “Muse” zu bezeichnen, wie Tack 2020a, die den ersten Teil auf der These aufbaut, Gombrich habe Bing als Muse in dem Kreis der Wissenschaftler um Aby Warburg gesehen: Tack 2020b, 183). Saxl jedoch war 1913 von Warburg als Assistent eingestellt worden und hatte sofort eng mit ihm zusammengearbeitet und wurde vor allem in den Jahren in Kreuzlingen ein wichtiger Dialogpartner. Er kannte Warburg nicht nur länger, er hatte auch mit der Etablierung der regelmäßig stattfindenden Vorträge, die als Reihe “Vorträge aus der Bibliothek Warburg” schon ab 1921 in Hamburg von ihm herausgegeben worden waren, dazu beigetragen, die KBW als Forschungsinstitut bekannt zu machen, und den Weg dafür bereitet, die KBW als Institut der Universität Hamburg anzugliedern, wozu es aus politischen Gründen nicht mehr gekommen ist.
Als Bing 1922 in die Bibliothek eintrat, war Warburg noch in Kreuzlingen. Er kehrte erst 1924 nach Hamburg zurück. Es ist also kein Wunder, dass Bing nach Saxls Tod erhebliche Bedenken hatte, dessen Arbeit an der Warburg-Biografie fortzusetzen. Die Idee, auf der Grundlage der Saxl’schen Vorarbeiten einen “Life and Letters”-Text zu schreiben, muss ihr daher als die einzige ihr mögliche Lösung erschienen sein und war sicher kein Tribut an das englischsprachige Publikum, das an diese Textform schon gewöhnt war.
Centannis These, dass Gombrich sich der Notizen, die Bing aus dem Briefwechsel erstellt hatte, bedient habe, steht in gewissem Kontrast zur Rezension Edgar Winds über Gombrichs Buch. Wind hat in seiner scharfen Kritik Gombrich unter anderem vorgeworfen, dass er zwar den Titel Intellektuelle Biographie gewählt habe, aber ausgerechnet die “intellektuellen Freundschaften”, den reichen Briefaustausch mit Kollegen und Freunden, der für Warburgs Arbeit von großer Bedeutung gewesen sei, mit keinem Wort erwähnt habe (Wind [1971] [1992] [2018] 2020).
Nach Bings Tod brach erneut ein Streit über die Biografie aus. Der Hamburger Senat war empört, dass das Manuskript nicht so weit fortgeschritten war, dass man es problemlos einem anderen zur Vollendung weiterreichen konnte. Es begannen wieder wochenlange Verhandlungen, wem man die Aufgabe anvertrauen könne und wie mit den restlichen 15.000 DM zu verfahren sein. Über Letzteres wurde man sich rasch einig: Auf das Geld habe ein Vollender der Biografie keinen Anspruch. Doch wer kam überhaupt für diese Aufgabe in Betracht? Die Warburgianer aus dem alten Hamburger Kreis stimmten überein, nachdem Carl Georg Heise dankend abgelehnt hatte, es komme dafür nur der ehemalige Warburg-Schüler Alfred Neumeyer in Frage, der auch dazu bereit war [6]. Doch die Londoner schlugen Ernst Gombrich vor, den Direktor des Warburg Institute, der nicht müde wurde zu erklären, er habe sowieso eine wissenschaftliche Abhandlung über Warburg mehr oder weniger fertig in der Schublade und könne problemlos einen zweiten biografischen Teil anfügen.
Centannis Behauptung, Gombrich habe sich der Vorarbeiten Bings bedient, wird jedoch durch einen Brief von Carl Georg Heises an Eric Warburg gestützt, in dem ein wenig schmeichelhaftes Bild über Gombrich gezeichnet wird. Darin heißt es:
Ich kann nun das Gefühl nicht loswerden, dass Dr. Gombrich erst nach dem Tode von Gertrud Bing auf den Gedanken gekommen ist, eine Warburg-Arbeit zu verfassen, um damit eine Biographie von anderer Seite zu verhindern. […] Nach G’s erstem, menschlich so wenig sympathischen Brief hatte ich einen ähnlichen Verlauf der Dinge vorausgesehen. Dein Vetter Dr. Prag hatte mir zwar versichert, G. hätte niemals den Gedanken gehabt, ein Warburg-Buch zu schreiben und sei bei ganz anderer Interessen-Richtung auch nicht der gegebene Mann dafür. Und da er offenbar vorher niemandem gegenüber (auch nicht der Bing!) von seinem Plan gesprochen hat, zunächst auch nur von einem ‘draft’ die Rede war […] und er endlich auch jetzt zögert, seinen Text herauszurücken, weil er aller Wahrscheinlichkeit nach noch gar nicht fertig abgeschlossen ist, so handelt es sich doch ganz offensichtlich darum, dass er sich an G. B.’s Stelle setzen will. Wenn eine Biographie geschrieben werden soll, so ist sein Buch überflüssig, erscheint aber vorher sein Buch, so ist weder für den präsumptiven Autor noch für die präsumptiven Käufer ein ernstliches Interesse für die Biographie vorhanden. Das weiß G. natürlich auch und klammert sich deswegen an das von Dir ins Spiel gebrachte Datum des hundertsten Geburtstages, das ja nun wirklich nicht von entscheidender Bedeutung ist (Carl Georg Heise an Eric Warburg vom 30. Oktober 1964, StA Hbg., 363-6 Kulturbehörde, Nr. 322).
Der Hamburger Senat wollte unbedingt die Biografie, die zum Jubiläum fertiggestellt sein sollte, und die internen Animositäten der KBW – der ‘alte’ Hamburger Kreis, der Warburg noch erlebt hatte, gegen den ‘neuen’ Londoner Zirkel, der ihn nicht gekannt hat – oder gar Urheberechtsfragen hinsichtlich der Bing’schen Recherchen zu Warburg stießen auf kein Interesse. Stattdessen gelang es dem Senat, Eric Warburg zu überzeugen, dass Gombrich der geeignete Mann sei: “Außerdem ist das Institut [in London, D. G.] nun einmal im Besitz aller Unterlagen, die für einen Biografen notwendig sind. Praktisch kann ein Biograf gegen den Widerstand der Mitarbeiter des Institutes eine Biografie nicht schreiben, weil er keinen Zugang zu den Unterlagen erhalten würde” (Vermerk zur Warburg-Biografie von Braden, 10. November 1964, StA Hbg., 363-6 Kulturbehörde, Nr. 322). Eric Warburg stimmte dem Vorschlag unter der Bedingung zu, dass die Biografie drei Teile umfassen solle: Erstens einen wissenschaftlichen Teil, der von Gombrich verfasst werde, im zweiten Teil solle eine Auswahl der Warburg’schen Briefe veröffentlicht werden und im dritten persönliche Erinnerungen seiner Bekannten wie Carl Georg Heise oder seiner Kinder Marietta Braden und Frede Prag sowie Max Warburgs (Vermerk zur Warburg-Biografie von Braden, 10. November 1964, StA Hbg., 363-6 Kulturbehörde, Nr. 322). Doch Teil zwei und drei sind nie erschienen.
Die Ironie immerhin ist, dass auch Gombrichs Arbeit zum Jubiläum nicht fertig wurde. Seine Intellektuelle Biographie prägte jedoch ein bestimmtes Warburg-Bild (das des wahnsinnigen Genies nämlich), das sich bis heute hartnäckig hält und das zu korrigieren eine ständige Herausforderung bleibt. Alle drei Biografen – Saxl, Bing und Gombrich – sind letztlich an der Aufgabe gescheitert, den Mann Warburg, der feste Zuschreibungen und Begrenzungen zutiefst verabscheute, in ein Buch zu fassen. Fast könnte man meinen, dass die Aufgabe ihnen unter den Händen zerrann. Auf die kommentierte Herausgabe einiger seiner Briefe haben wir bis zum Dezember 2021 warten müssen (GS Briefe).
Monica Centanni stützt sich in ihrem Aufsatz über Gombrich und Bing auf Tremls und Despoix’ Dokumente über die Vorarbeiten zu dem Warburg-Buch, die vor allem die Finanzierungsprobleme thematisierten. Bei Centanni liest es sich so, als habe Hamburg Bing letztlich finanziell nicht unterstützt und sie sei deshalb gezwungen gewesen, sich an eine Stiftung in Amerika zu wenden.
Centanni irrt sich auch mit der Behauptung, dass die Briefe, die Bing wegen der Finanzierung der Warburg-Biografie an die Bollingen Foundation in den USA geschrieben hatte, erst kürzlich aufgetaucht seien. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Gombrich Bing nicht nur nicht unterstützt, sondern ihre Arbeit sogar behindert habe. Dieser Vorwurf basiert bei genauer Recherche auf einer Fehlinterpretation der Korrespondenz mit der Bollingen Foundation. Bings Brief an die Stiftung ist keineswegs erst “vor kurzem” (Centanni 2020, 134) aufgetaucht, sondern wurde schon 1996 in dem von Volker Breidecker herausgegebenen Band der Korrespondenz Kracauer/Panofsky vollständig abgedruckt (Breidecker 1996, 112-113). Das erwähnen allerdings auch Despoix und Treml nicht. Im Anhang zu dieser Korrespondenz hat Breidecker Briefe von Bing und Kracauer publiziert (Despoix hat über Kracauer gearbeitet. Breideckers Band erwähnt er nicht). Daraus geht hervor, dass Bing ihren Brief vom 22. März 1962 (das ist auf den Tag genau 14 Jahre, nachdem Saxl gestorben war), in dem sie die Bollingen-Stiftung um finanzielle Unterstützung für die Warburg-Biografie bat, einem Brief an Kracauer beigelegt hatte. Es handelt sich also nicht um einen Durchschlag, wie Despoix/Treml anmerken (Despoix, Treml 2019, 100). Bing wollte nicht nur, dass Kracauer über ihre Anfrage informiert ist, sondern sie bat ihn explizit, sich bei der Stiftung für sie zu verwenden und den Brief weiterzugeben. Als Grund für ihren Antrag nannte sie nicht eine Ablehnung seitens Gombrichs, sondern ihr Anliegen, Warburg in der englischen academia bekannt zu machen: “That I now feel, for the sake of my own and the Institute’s dignity, they should not be pursued. As you will see, I should in any case much prefer some assistance from an international body in the English-speaking world” (Gertrud Bing an Siegfried Kracauer, 22. März 1962, in Breidecker 1996, 111f.). Bing fuhr somit zweigleisig und wollte den Gedanken, eine Warburg-Biografie müsse unbedingt auf Englisch erscheinen, nicht aufgeben:
I had hoped to receive some financial help from Warburg’s native city Hamburg, but this seems to have met with difficulties. Moreover, a grant from that side would, not unnaturally, carry with it the obligation to write the biography in German. I am reluctant to comply with this condition in view of the present-day position of scholarship and of the fact that the Warburg Institute now belongs to the English-speaking world. Warburg’s ideas have found an international audience and much of the work following his lead is carries out in England and the United-States (Bing an Vaun Gillmor, 22. März 1962, in Breidecker 1996, 113).
Offenbar plante sie entweder zwei verschiedene Biografien oder mindestens eine Übersetzung ins Englische. In Centannis Aufsatz klingt es aber so, als habe Gombrich ihr jede Unterstützung seitens des Instituts versagt und sie sei deswegen genötigt gewesen, sich nach einer anderen Finanzierung umzusehen. Die Sekretärin der Bollingen Foundation, Vaun Gillmor, beantwortete Bings Anfrage am 12. April 1962 und teilte ihr mit, dass man ihr Projekt grundsätzlich mit Wohlwollen aufgenommen habe, doch der Ansicht sei, eine Biografie über Warburg sollte in erster Linie vom Warburg Institute gefördert werden. Bing wurde aufgefordert, sich dementsprechend um eine Finanzierung zu bemühen. Sollte das erfolglos sein, könne sie jedoch einen offiziellen Antrag bei der Stiftung einreichen. Erst danach, am 2. Mai 1962, schrieb Gombrich nach Rücksprache mit Bing, die ihm die Korrespondenz mit der Stiftung gezeigt hatte, an Vaun Gillmor (Gombrich Art and Illusion das auf die A.W. Mellon “Lectures in the Fine Arts” zurückgeht, war 1960/61 in den “Bollingen Series” No. 35,5 erschienen. Er hatte also auch selbst vorher schon direkten Kontakt zu der Stiftung gehabt) und erläuterte in einem ausführlichen Brief, weshalb Bings Projekt vom Warburg Institute nicht gefördert werden könne:
We have no endowments of our own and are financially entirely dependent on the allocations we receive from that central body. Our budget is strictly laid down and earmarked for specific purposes connected with the Institute’s function within the University. As I have had occasion to tell many of my friends in the Foundation, neither the allocation for book purchases nor those for the staffing of the Library, Photographic Collection or the Office are anywhere near adequate. Unfortunately our hopes of improving the situation slumped when it was announced in the House of Commons on March 14th that allocation to Universities would only be a fraction even of their officially recognised needs. I trust you will understand that in this situation it would not be possible for me to propose to those who control our budget that Professor Bing, whose (small) pension as a former Director is of course paid by this Institute, should receive an additional annual sum in her retirement. Even the suggestion that such a sum might be matched by Bollingen would not, I am afraid, make the proposal acceptable to my Committee, while there are such urgent claims for the actual running of the Institute. […] Professor Bing has authorised me to tell you that the family have in fact given money for that purpose in the past, some of which is still available, but that it could not cover the project she set out. […] I have set all these facts before you even at the risk of appearing prolix, because I want all concerned to know the true situation this side (Ernst Gombrich an Vaun Gillmor, Bollingen Foundation, 2. Mai 1962, in Breidecker 1996, 116-117).
Nach Erhalt des Gombrich’schen Briefs informierte Vaun Gillmor Bing am 4. Juni 1962, dass die Stiftung über ihr Anliegen auf der nächsten Sitzung beraten werde und in ihrem Fall auf die üblichen Empfehlungsschreiben verzichten wolle. Bing erhielt schließlich mit dem Jahr 1963 die Förderung – drei Monate nach dem erfolgreich abgeschlossenen Förderungsvertrag mit Hamburg. Centannis Darstellung ist ungenau, wenn sie vorwurfsvoll bemerkt, dass Bing die Befürwortung des Stipendiums erst wenige Monate nach ihrem Tod erhalten habe und die Hamburger Zuwendung verschweigt: “La ‘borsa di studio’ sarà accordata a Gertrud Bing dalla Bollingen Foundation nel 1963, a pochi mesi dalla sua morte” (Meine Hervorhebung, D.G.) [7].
Gertrud Bing starb 72-jährig am 3. Juli 1964 in London. Sie hatte zwar nicht mehr viel Nutzen von der finanziellen Unterstützung der Hamburger und Amerikaner, aber sie hat beides gleichwohl noch zu Lebzeiten erhalten. Centanni macht aus ihr ein Opfer, die dem nur eigene Interessen verfolgenden Gombrich nicht gewachsen gewesen sein soll. Mag Letzteres vielleicht sogar zutreffen, bedarf Bing dieser Schützenhilfe dennoch nicht [8]. Das Bild des Opfers widerspricht in allen Einzelheiten dem der tatkräftigen, energischen und realistischen Bing, das einhellig alle Zeitzeugen von ihr gezeichnet haben, die ihr vor allem auch eine strenge Wissenschaftlichkeit bescheinigten.
In seinem Nachruf würdigte Carl Georg Heise sie denn auch als “Sachverwalterin seines [Warburgs] wissenschaftlichen Erbes”, die in Italien zu “einem erlesenen Kreis [gehörte], der sich mit mittelalterlichen Studien beschäftigte, und eine Zeitlang […] auch Vorstandsmitglied des Deutschen Kunsthistorischen Instituts in Florenz” gewesen ist. Heise schließt mit den Worten:
In Gertrud Bing vereinigten sich auf seltene Weise ein scharfer Intellekt und eine große menschliche Warmherzigkeit. Das machte sie in so hohem Maße geeignet, anderen Fachgenossen, namentlich auch denen der jüngeren Generation, mit Rat und Hilfe beizustehen. […] Als selbstlose inspirierende Anima erst ihres Meisters, dann vieler jüngerer Weggenossen, wird sie ihren ehrenvollen Platz in der Geschichte unserer Zunft behalten. Es liegt wie ein freundlich verklärenden Abendglanz auf ihrem vollendeten Leben, dass die unter ihrem Emigrantenschicksal bitter Leidende nach Beendigung des Krieges, erst schweren Herzens, dann mit Güte und Verständnis, zu ihren alten deutschen Freunden zurückgefunden hat (Heise 1964).
Notizien
1. 1993 wurde die Ausstellung rekonstruiert und noch einmal gezeigt. Sie ist heute in Form des Katalogs nachvollziehbar. Siehe Fleckner et. al 1993. Nach Aussage des derzeitigen Leiters des Planetariums, Thomas Kraupe, wird daran gearbeitet, die Ausstellung wieder dauerhaft im Planetarium zu zeigen. Telefongespräch vom 25. Oktober 2020.
2. Lucas Burkart hat recherchiert, dass es jedoch schon vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten intensive Überlegungen gab, die KBW ins Ausland zu transferieren. Grund waren die mehr als drastischen finanziellen Kürzungen, die hauptsächlich von den amerikanischen Warburg-Brüdern Felix und Paul ausgingen. Nach Warburgs Tod waren der Bibliothek die Mittel um über 75 Prozent gekürzt worden, so dass Bing und Saxl sich zunehmend außerstande sahen, den Forschungsbetrieb weiter aufrechterhalten zu können. Siehe Burkart [2000] 2020.
3. Vittoria Magnoler, die die Korrespondenz zwischen Bing und Garin kommentiert hat, ist hier jedoch zu widersprechen. Sie argumentiert, dass Garin Warburgs und Saxls Grundimpuls der Kontinuität eines Nachlebens der Antike nicht teile “Nè crede nella possibilitá di leggere in modo continuo e oggettivo il Nachleben der Antike”: und glaubt auch nicht an die Möglichkeit, das Nachleben der Antike kontinuierlich und objektiv zu lesen (Magnoler 2020, 70). Dem steht jedoch u. a. Garins Publikation über Astrologie in der Renaissance entgegen: Lo zodiaco della vita (Garin 1976), Garin kritisiert darin ausdrücklich Cassirer, der von der Überwindung des dämonischen Glaubens in der Wissenschaft in der Renaissance ausgeht, während Warburg sowohl das “Doppelgesicht” der Astrologie an sich als auch ihr Weiterleben in der Renaissance bis zur Moderne aufgezeigt habe.
4. Die Erinnerungen Carl Georg Heises an Aby Warburg, die jener noch kurz vor Kriegsende im April 1945 in Berlin aufgezeichnet hatte und die zunächst als New Yorker Privatdruck erschienen waren, wurden anlässlich der Aufstellung der Büste 1959 ein zweites Mal von der damals 200 Mitglieder zählenden Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg in einer Auflage von 500 Exemplaren herausgegeben. Heise [1947] 2005, VIII.
5. Senatssyndicus Hans Gustav Adolf von Heppe hatte mit Eric Warburg gesprochen und dabei festgestellt, dass Bing nur mit einer Zahlung in Höhe von insgesamt 25.000 DM rechnete. Um Geld sparen zu können und dennoch großzügig dazustehen, schlug von Heppe deshalb den anderen Senatsmitgliedern die Kürzung auf 30.000 DM vor, dem diese – ohne weitere Sitzung – im Umlaufverfahren zustimmten. Siehe Vertraulicher Vermerk vom 24. Mai 1962, StA Hbg., 363-6 Kulturbehörde, Nr. 322.
6. Am 16. September 1964 schrieb Neumeyer an Heise: “Vernunft und Empfinden sagen mir aber, daß nichts an Bedeutung der Übernahme einer Biographie Warburgs gleichkommen könne. Ich schulde das gewissermaßen der Existenz Warburgs. So sage ich erst einmal grundsätzlich ‘Ja’ zu Deiner Anfrage und bin mir dabei bewußt, dass ich nicht der Einzige sein werde, an den sich die Familie wenden wird” (StA Hbg., 363-6 Kulturbehörde, Nr. 322). Neumeyer hatte seine Arbeit Der Blick aus dem Bilde nicht nur seinen Lehrern Adolf Goldschmidt und Aby Warburg gewidmet, er hat ihr vor allem auch einen Exkurs angefügt, in dem er Warburgs Pathosformeln weiterdachte. Darin wurde deutlich, dass er sich von Gombrichs kunstpsychologischem Blick nicht so sehr unterschied. Neumeyer verknüpfte Warburgs Engramm, das der aus seiner intensiven Lektüre von Ewald Herings Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie (Leipzig 1905) abgeleitet hatte, mit Freuds Psychoanalyse. Das ist eine Auslegung Warburgs, die in jüngerer Zeit auch Georges Didi-Huberman vehement vertritt (siehe Neumeyer 1964, 88 f).
7. “La ‘borsa di studio’ sarà accordata a Gertrud Bing dalla Bollingen Foundation nel 1963, a pochi mesi dalla sua morte” (“Das ‘Stipendium’ wird Gertrud Bing 1963, nur wenige Monate nach ihrem Tod”), von der Bollingen-Stiftung verliehen. Centanni zitiert Despoix; Treml, Bing verkehrt. Im Original heißt es: “Celle-ci ne pourra profiter que peu de temps des bourses qui lui furent finalement accordées à partir de l’été 1963 et par le sénat de Hambourg et par la Fondation Bollingen”. Sie konnte nur kurze Zeit von den Stipendien profitieren, die ihr schließlich ab Sommer 1963 sowohl vom Hamburger Senat als auch von der Bollingen-Stiftung gewährt wurden (Despoix, Treml 2020, 173). In Fragments sur Aby Warburg heißt es an anderer Stelle explizit: “La Bourse pour se projet […] fur accordée, mais Bing n’en bénéficia pas même une année, puisqu’elle tomba malade début juin 1964 et décéda un mois plus tard” (“Das Stipendium für dieses Projekt […] wurde bewilligt, aber Bing konnte nicht einmal ein Jahr davon profitieren, da sie Anfang Juni 1964 krank wurde und einen Monat später starb” (Despoix, Treml 2019, 100).
8. Diese Kritik gilt gleichermaßen auch für Laura Tacks Monografie The Fortune of Gertrud Bing (1892-1964) (Tack 2020a), in der sich die Autorin auf “feministische Spurensuche” begibt, um Bings Leben aus dem “Fluss des Vergessens ins Licht der Erinnerung zu ziehen” und ihre “sogenannte stille Tätigkeit” endlich zu würdigen (Tack 2020b, 179-186).
Bibliographie
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English abstract
We present Gertrud Bing im Warburg-Cassirer-Kreis, published by Wallstein, 2024. This volume, edited by Dorothee Gelhard and Thomas Roide, traces the academic and intellectual history of Gertrud Bing, one of the first female students to earn a PhD from the University of Hamburg in 1921. The volume publishes for the first time Bing’ thesis, which had hitherto only been available in Germany as a typescript copy, for the first time. The contribution presents here a section of Dorothee Gelhard’s Introduction to the book.
keywords | Gertrud Bing; Aby Warburg; Ernst Cassirer; Fritz Saxl; Ernst Gombrich; KBW.
Per citare questo articolo / To cite this article: D. Gelhard (a cura di), A Presentation of: Gertrud Bing im Warburg-Cassirer-Kreis, Wallstein, Göttingen 2024, “La Rivista di Engramma” n. 211, aprile 2024, pp. 243-277 | PDF